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Lebende Bilder vom Tod

Über das neue, unterhaltsame, bunte Leichenmanagement und die alte jesuitische Ordensregel, die besagt, die Ordensbrüder hätten zu sein wie Leichen, hätten sich zu verhalten, als ob sie tot seien, woher auch das Wort vom Kadavergehorsam stammt

Das Privileg der Leichen ist es eigentlich, nicht mehr gehorchen zu müssen

von PETER FUCHS

In den Monaten um den Jahreswechsel herum, in Zeiten also, in denen uns lärmend Besinnung angesonnen wird, mag man auf die Idee kommen, über den Tod nachzudenken. Wendet man dabei etwas mehr Sorgfalt an, als es üblich ist, lässt sich voller Erstaunen feststellen, dass er kein klar geschnittenes, kein wirklich präzises Problem mehr darstellt. Keine Frage ist, dass er noch immer allenthalben anfällt. Immer noch muss gestorben werden, soweit man sieht: ausnahmslos. Konnte man eine Zeit lang glauben, dass es gelungen sei, das Sterben und den Tod zu tabuisieren, ihn aus der Sorge zu nehmen, ihn also (wie es so traulich doppeldeutig heißt) sozial und psychisch zu entsorgen, so drängt sich nun der Eindruck auf, dass er in seinen schrecklichsten Gestalten brillieren darf und sich dennoch oder gerade deswegen zwanglos einordnet in die Spaßigkeiten, die sich die Gesellschaft in den Zonen gönnt, die als hoch zivilisiert gelten. Der Horror des Todes ist jedenfalls längst eingezogen in die Kinderstuben und Jugendzimmer, aber nicht eigentlich als Schrecken, sondern als steigerbarer Genuss an Zerfleischung, Pfählung, Verwesung. Filme wie der „Herr der Ringe“ sind technisch meisterhaft inszenierte Nekrophilien, deren Kern- und Blutstücke massenmedial weiterverwendet werden, sattfarbige Simulacra, durch die sich Würmer schlängeln.

Nun sind es aber eben Simulationen, die diese raffinierten Lustgewinne ermöglichen. Das Bild des Menschen, wie es uns tradiert wurde, ist ohnehin gänzlich aus dem Ruder gelaufen. Es war, wie man heute wissen kann, nur ein Bild, nur eine Idee, und weil man dies wissen (oder ahnen kann), werden Zerrbilder und Zerrideen legitim, insofern sie nichts verzerren, sondern nur weitere Bilder sind, in diesem Fall schauerlich schöne Bilder von Leichen in jedem Zustand der Verrottung, der sich technisch noch irgendwie vorführen lässt. Tabuisiert ist hier nichts. Nichts ist heilig, muss es aber auch nicht sein, solange noch gewährleistet ist, dass unterschieden werden kann zwischen Simulation und deren anderer Seite, dem wirklichen Tod, der jeden und jede erwischt, und der wirklichen Leiche, die jeder und jede einmal sein wird.

Das Problem ist aber, dass diese Unterscheidung seit einiger Zeit kollabiert. Sie trennt nicht mehr tiefenscharf das, wodurch wir im Genre des Fiktiven begeistert betroffen sein können, von dem, worin wir – wie wir zuvor glaubten – existenziell betroffen waren. Denn seit einiger Zeit tauchen wirkliche Leichen öffentlich auf als moderne Varianten des Wiedergängertums. Sie werden ausgestellt in dauerhafter Form und ziehen so die Massen an. Ursula und Ernst, Mandy und Hendrik sitzen, stehen und liegen nach ihrem Tod im öffentlichen Raum herum, nackter als nackt, enthäutet, entbeint oder skelettiert, in neckischen Positionen, plastikfest und anfassbar. Ein Professor und Meister aus Deutschland macht seit langem Furore durch die Verstetigung von Leichen und Leichenteilen, neuerdings auch durch öffentliche Sektionen, die zeigen, dass tote Menschen, wenn man sie aufschneidet und ins ansonsten ewig Finstere des Körperinneren schaut, nicht viel anders aussehen als geschlachtete Lämmer, lungenrot, fettgelb, hirnbraun und im Wesentlichen unappetitlich.

Wenn man nicht auf Fragen des Geschmacks, der Kultur, der Zivilisation eingehen will, muss man zunächst den Hut ziehen. Die Idee und ihre Promotion ist zweifelsfrei genial. Jener Professor und Meister aus Deutschland ist dabei, ein Problem zu lösen, an das sich bisher kaum jemand getraut hat, nämlich das Problem der Leichenverwertung. Nichts war bis dato nutzloser und resourcenverschlingender als Leichen. Man konnte sie nur eingraben, verbrennen, mitunter einfrieren. In eingeäscherter Form konnte man sie gefäßweise ins Fensterbrett stellen oder in die Winde verstreuen. Aber sonst ließ sich nicht sehr viel mit ihnen anfangen. Der Verzehr verbietet sich (außer im Feld des Fiktiven, etwa bei Hannibal the Cannibal) vorderhand noch wie von selbst, wiewohl man seit kurzem in dieser Hinsicht nicht mehr ganz so sicher sein kann.

Im Moment aber, in dem der Körper eines Verstorbenen auf Dauer gestellt und in beliebige Formen gebracht werden kann, kommt es eigentlich nur noch darauf an, die Restformen alter Ängste zu beseitigen (zum Beispiel dadurch, dass man öffentlich zeigt, dass ein toter Mensch nur eine Art Fleisch- und Knochensack ist), und wenn dies gelungen ist, kann in nachgerade industrieller Form dazu übergegangen werden, Leichen nach den Wünschen der Hinterbliebenen (oder anderer Personen, die Ersatzleichen kaufen könnten) einzurichten.

Die Geschäftsidee ist schlicht: Anfangs befriedigt man Erinnerungsbedürfnisse, indem es möglich wird, Andachts- und Gedenkräume öffentlich oder privat zu schaffen, in denen der oder die Verstorbene in ansprechender Haltung zu besichtigen ist. Später kann man nach weiteren Enttabuisierungen dazu übergehen, die Plastinate als stumme Butler einzusetzen, die Schwiegermutter als Schirmständer etwa oder die Ehefrau als Schmuck der Bar. Das entfleischte Rippengehäuse des Großvaters könnte als Messerhalter dienen. Schubläden für allerlei Kram ließen sich in das Plastinat des Ehemannes einbauen. Sogar einzelne Leichenteile wären gesondert verwertbar, Hände als Türgriffe, Beine als Tischuntergestelle, Köpfe als Kannenwärmer. Bei alledem wäre sichergestellt, dass das Medium dieser Formen sich regeneriert. Leichen sind unter diesen Gesichtspunkten ein nachwachsender Rohstoff. Darum müsste man sich keine Sorgen machen, vor allem schon deshalb nicht, weil auf der Gegenseite des Lebens sich langsam die Möglichkeit der Selbstmultiplikation durch Klonen anzubieten beginnt. Man weiß noch nicht, welchen Status man diesen Multiplikaten ethisch angedeihen lassen soll, aber jedenfalls wäre es theoretisch möglich, sich ein Standbild der eigenen Leiche, solange man noch lebt, als Memento mori ins eigene Haus zu stellen.

Jener Professor und Meister aus Deutschland hat (wie die anderen Meister, die am Bilde des lebenden Menschen werkeln) Tore geöffnet, die sich nicht wieder schließen lassen. Er ist ein Vorreiter, der eine wesentliche Chance nutzt, die nämlich, dass unser respektierliches Verhältnis zum Tode und seiner eigentlichen Ausdrucksform, der Leiche, und damit auch unser respektierliches Verhältnis zum menschlichen Leben und seiner eigentlichen Ausdrucksform, dem lebenden Leibe, bei Licht besehen, längst schon monströs ist. Dieser Leichenbastler hat eine feine Witterung dafür, dass sich der Tod nicht recht einbauen ließ in den Höllenwirbel der Moderne, dass er im Umtrieb der Moden ein kontinuierendes Ärgernis blieb, ein Stachel, wider den man nicht löcken konnte. Moriendum est, es ist zu sterben, heute oder morgen, früher oder später. So sagten es ferne Vergangenheiten, so müssten auch wir es sagen und dem großen Relativator Tod, vor dem kein Epochenspaß besteht, unsere Reverenz erweisen. Im Tempo- und Fortschrittstaumel unserer Tage muss man ihn jedoch vergessen können, aber – wie sehr man es will – er lässt sich nicht fortpacken, da er die vom Leben verlassenen Körper ausschüttet, eine unaufhörlich sich erneuernde Spur, ein Dauerverweis, dem man nicht ausweichen kann.

Das Privileg der Leichen ist es eigentlich, nicht mehr gehorchen zu müssen, nicht mehr formbar und einfach unsagbar fremd zu sein, und genau darauf bezieht sich raffiniert und punktscharf diese neue Form des Leichenmanagements. Sie findet eine Parallele in der alten jesuitischen Ordensregel, die besagt, die Ordensbrüder hätten zu sein wie Leichen, hätten sich zu verhalten, als ob sie tot seien (si cadaver essent). Daher stammt das Wort vom Kadavergehorsam. Der Trick ist die Transformation von Leichen in Kadaver, die gehorchen, die sich einer Form anbequemen, einer Macht fügen, der sie nicht widerstehen können. Sie sind auf einmal posierende Kadaver, schreckensferne Schaustücke, gruselkomisch und würdefrei, so sehr Teil einer leichenfleddernden Komödie, dass kein Grauen mehr aufkommen kann, niemandem mehr bang zumute ist. Die kleine Beklemmung, die anfallen mag, ist ja selbst nichts als ein weiterer lustvoller Reiz, eine Art Bungee-Springen für übersättigte Augen.

Der Trick des Tricks ist es, dass er die Todessehnsucht, die Todesverfallenheit der Zeit mitbefriedigt, aber schmerzfrei, besinnungslos, als Groteske. Man kann ein bisschen schaudern, ein bisschen Huch-Gefühle aktivieren, ein bisschen mehr sich aneinanderdrängen. Dies alles ist nicht so schlimm, so dunkel, so wütend wie die Totentänze des späten Mittelalters, es ist nicht einmal zynisch, sondern aseptisch, von bunter Bedenkenlosigkeit, harmlos und heiter schrill wie die neuen Formen einer sich der Zeit anpassenden Begräbnis- und Verbrennungskultur. Es ist, alles in allem, nicht mehr so dunkel in des Todes Kammer, obwohl es, alles in allem, so dunkel ist wie nie zuvor.

Der an den Leichen ohne Not bastelt, man darf ihn einen notorischen Visionär nennen, der am Sein zum Tode parasitär profitiert – einen Vorläufer vielleicht, der die Wehrlosigkeit der Leichen, der die Kadaver, die er dabei erzeugt, im Dienste der Todesvergessenheit zierlich zu nutzen weiß.

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