Nachhaltige Bescherung

Atheisten zahlen keine Kirchensteuer – und haben damit immense finanzielle Reserven zum Aufbau einer Bundesstiftung für gesellschaftliches Engagement zum Nutzen aller

Die Stiftung solltezu einem Bericht an die Nation verpflichtet werden – den der Bundestag diskutiert

Zu Weihnachten erreichen die Spendenaufrufe gemeinnütziger Organisationen ihren Höhepunkt – kein Wunder, zu Weihnachten wird gern gegeben. Diese jahreszeitlich gebundene finanzielle Großzügigkeit täuscht darüber hinweg, dass die Bindungskraft westlicher Gesellschaften abnimmt. Nicht nur hierzulande sehen Soziologen den Rückgang an Sozialkapital als charakteristisches Kennzeichen der Gegenwart an. Die Menschen sind in weniger Vereinigungen aktiv, privatisieren stärker und geben bei Umfragen ein größeres Misstrauen gegenüber ihren Mitbürgern zu Protokoll.

Ein solcher Trend vom nach außen orientierten Gesellschaftlichen ins abgeschottete Private ist aber nicht unumkehrbar. Unter den richtigen Bedingungen entstehen „Gemeinschaftsunternehmer“ mit Interesse an sozialen, politischen und kulturellen Fragen, die andere mitreißen können und deren Aktivitäten dadurch Sozialkapital für viele erzeugen. Zu einem Teil besteht ein dafür günstiger Nährboden aus ökonomischer Sicherheit – also einem ausreichenden Arbeitsplatzangebot, familienfreundlichen Arbeitszeiten und sozialer Gerechtigkeit. Dafür zu sorgen ist Aufgabe der Wirtschaftspolitik.

Zu einem anderen Teil sind es aber bewusst geschaffene institutionelle Rahmenbedingungen, die ein bürgerschaftliches Engagement fördern. Hier sind politische Initiativen notwendig, die über die Zentralen für politische Bildung, den Sozialkundeunterricht oder sonstige gut gemeinte Einrichtungen hinausgehen. Die Verankerung zivilgesellschaftlichen Denkens und Handelns lässt sich schlecht oktroyieren. Sie kann besser in der Praxis gelernt werden: im klassischen Ehrenamt für einen Verein ebenso wie bei direkten politischen Aktionen im Rahmen von Bürgerinitiativen.

Es gibt ein breites allgemeines Interesse an einem hohen Grad an Sozialkapital. Reich damit ausgestattete Länder und Regionen sind ökonomisch wie politisch stabiler und innovationsfreudiger, ihre Bewohner zufriedener. Der Nestor solcher Forschungen, Harvards Robert D. Putnam, konnte etwa für Italien zeigen, wie sich die Entwicklung des prosperierenden Nordens gegenüber dem armen Süden vor allem auf Differenzen an zivilgesellschaftlichem Engagement zurückführen lässt.

Wegen solcher Vorteile sollte man auch in Deutschland bewusst mehr in Sozialkapital investieren. Was hier nur gelegentlich und zufällig zustande kommt, ist die großzügige Förderung des offenen gesellschaftlichen Experiments, also dessen, was Hoffnung auf gestaltende Veränderung und Lust auf mehr macht. Was fehlt, ist die Verbreitung der Idee, dass Zukunft nicht nur erlitten, sondern auch bewusst gestaltbar ist.

Deshalb sollten wir die Bundesstiftung „Zukunft erproben“ einrichten. Ihr Ziel müsste sein, soziale Experimente mit Nachhaltigkeitsgehalt zu ermöglichen und zur Verbreitung und Diskussion ihrer Ergebnisse beizutragen. Die Finanzierung wäre öffentliche Aufgabe. Und statt auf kleine Brosamen vom kargen Tisch des Herrn Eichel zu warten, lieber gleich richtig ran an die wohl gefüllten Fleischtöpfe der Postmaterialisten.

Der Vorschlag: Steuerpflichtige ohne formelle Religionsmitgliedschaft sollten zu einem Betrag in Höhe der bei ihnen nicht anfallenden Kirchensteuer verpflichtet werden. Empfänger wären nicht die staatlichen Haushalte, sondern die Bundesstiftung als gesonderte Einrichtung mit säkularem Sinngebungscharakter. Ziel ist, aus Atheistengeld modernen Bürgersinn wachsen zu lassen. Italiener und Spanier haben schon seit mehr als einer Dekade ein solches Wahlrecht zwischen Kirchenbeiträgen und Zahlungen an soziale oder kulturelle Einrichtungen.

Die Bundesstiftung sollte nur organisatorischer Schirm sein und die einfließenden Mittel an einige wenige selbstständige Mitgliedseinrichtungen weiterreichen, die in für eine menschenwürdige Zukunft zentralen und immer unterfinanzierten Bereichen arbeiten, wie Ökologie, internationale Entwicklung, Kultur und Zivilgesellschaft. Untersuchungen zeigen, dass die zunehmende Gruppe der Postmaterialisten zwar besonders kirchenfern ist, aber einen hohen Wert auf Demokratie, Umweltschutz und Erziehung zur Zivilität legt.

Steuerpflichtige ohne Kirchenmitgliedschaft könnten dann jährlich über ihren Pflichtobolus in Anteilen verfügen, etwa 50 Prozent für die eine, je 25 Prozent für zwei der anderen Einrichtungen angeben. Wegen dieser Wahlfreiheit würde eine Gesellschaft sehr flexibel auf neue gesellschaftliche Problemlagen reagieren können. Und die einzelne Empfängereinrichtung wäre wegen der internen Konkurrenz motiviert, auf in der Öffentlichkeit Erfolg versprechende Projekte zu setzen.

Es wird um hohe Summen gehen. Zur Zeit erbringt die Kirchensteuer etwa 8 Milliarden Euro. Ein Drittel der Steuerzahler sind nicht in einer anerkannten Religionsgemeinschaft. Und selbst wenn einige islamische Gruppierungen künftig zugelassen werden und Kirchensteuern erheben dürfen, blieben für eine solche Stiftung noch Milliarden jährlicher Einnahmen übrig. Damit kann Politik von unten effektiv betrieben werden.

Nicht auf Eichels karge Brosamen warten – ran an die gefüllten Fleischtöpfe der Postmaterialisten

Stiftungsprojekte im Bereich Zivilgesellschaft könnten deshalb ebenso der Aufbau eines beispielhaften kommunalen computerbasierten Volksabstimmungssystems sein, wie die Errichtung unabhängiger Laborschulen, die mehr Gewicht auf Sozial- als auf Technikkompetenz legen.

Das schlechte Beispiel der Lottogesellschaften zeigt: auf keinen Fall darf die Leitung der Stiftungen parteipolitisch beeinflusst werden. Schon die Organisationsform der Mitgliedseinrichtungen von „Zukunft erproben“ könnte als Feld des sozialen Experiments genutzt werden. Warum zum Beispiel sollte ein Stiftungsrat nicht wenigstens zur Hälfte aus einer Zufallsauswahl von Bürgern bestehen? Und zur anderen Hälfte aus Spezialisten der Sozialkapital-Generierung, etwa gewählt von Angehörigen der sozialwissenschaftlichen Fakultäten? Umgekehrt wäre es wünschenswert, wenn die Tätigkeit im öffentlichen Auftrag auch in die Politik einfließen könnte. Alle Teilstiftungen sollten in regelmäßigem Abstand zu einem Bericht an die Nation verpflichtet werden, der dann im Bundestag zu debattieren wäre.

Die Stiftung „Zukunft erproben“ sollte dabei dezentral organisiert werden: Viele lokale Stützpunkte mit Räumen, Homepages und Gruppentreffen könnten Kristallisationskerne eines vor Ort arbeitenden Netzwerks werden. Die Bevölkerung der Bundesrepublik zeigt in Umfragen ein gestiegenes Politikinteresse, gleichzeitig nehmen die Teilnahme an Wahlen und die Mitgliedschaft in Parteien ab. Eine lockere, dem gesellschaftlich Neuen zugewandte Organisationsform, die als offener Club jenseits der Partikularität von Bürgerinitiativen und der Allgemeinzuständigkeit von Parteien existierte, könnte sich hier als politisches Engagement der dritten Art erfolgreich etablieren. GERD GRÖZINGER