In patriotischem Gewand

Für die meisten orthodoxen Russen spielt das Moment der nationalen Identitätssuche eine größere Rolle als die Suche nach religiösem Halt

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Es hat schon seinen Grund, warum der Papst in Moskau nicht gelitten ist. Seit Jahren appelliert der Oberhirte der Katholiken vergeblich an die Großmut des Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, ihn trotz Vorbehalten doch mal zu empfangen. Nun gibt ein Regierungsbericht unter Federführung des für Nationalitätenfragen zuständigen Ministers, Wladimir Sorin, zum Thema „Bedrohung der nationalen Sicherheit, verbunden mit religiösem Extremismus“ freimütig Aufschluss darüber, was Russlands Führungskreise von nichtorthodoxen Konfessionen tatsächlich halten. „Extremismus stellt für Russland das Sicherheitsproblem Nummer eins dar“, sagte Sorin jüngst in einem Zeitungsinterview. „Gerade auch jener Extremismus, der in religiösem Gewand daherkommt.“

An erster Stelle des geistlichen Terrorismus rangiert dem Bericht zufolge die römisch-katholische Kirche, gefolgt von Protestanten, Satansanbetern und „Vertretern ausländischer, pseudoreligiöser Gruppen“. Die hätten in Russland Zulauf, schlussfolgert die 15-seitige Analyse, die Regierungsstellen eigentlich nur als „Orientierungshilfe“ dienen soll. Aber der Entwurf empfiehlt, religiöse Vereinigungen zu beobachten und im Innen- und Justizministerium, beim Inlandsgeheimdienst FSB sowie bei der Generalstaatsanwaltschaft Abteilungen einzurichten, die sich mit der Bekämpfung des religiösen Extremismus befassen sollen.

„Fremde Konfessionen“ haben laut Sorins Bericht im letzten Jahrzehnt im Lande ansässige Glaubensrichtungen verdrängt: Die Orthodoxie, der Buddhismus und Angehörige des jüdischen Glaubens werden von den konvertierten Atheisten im Kreml ausdrücklich von der Kritik ausgenommen. Nicht so die Vertreter des radikalen Islam.

Dass Kurie und Kalifat nun gleichermaßen unter Terrorismusverdacht geraten, lässt sich auf die Zusammenarbeit in der Antiterrorismuskoalition mit den USA zurückführen. Die Ablehnung des Katholizismus indes reicht weiter zurück: auf das Schisma zwischen der Kirche West- und Ostroms im Jahre 1054. Damals warnten die oströmischen Missionare: „Nimm nicht die Lehre an von den Lateinern, denn ihre Lehre ist verdorben.“ Genau dies befürchtet Moskaus Patriarchat auch heute wieder und führt in dem Entwurf Klage, dass „einzelne Priester und Vertreter der rechtgläubigen Kirche zum Übertritt“ neigten.

Als einen Angriff auf die Orthodoxie wertete Moskau überdies die Umbenennung der vier russischen apostolischen Verwaltungen in vollwertige Diözesen im Februar diesen Jahres. Damit hatte der Vatikan, so heißt es in dem Papier entrüstet, „das Territorium Russlands zur Kirchenprovinz ernannt“. Diese respektlose Haltung gegenüber traditionellen Konfessionen sei nicht nur Grundlage für einen religiösen Extremismus, sondern öffne auch „Hass und antisozialen Aktivitäten auf konfessioneller Grundlage“ Tür und Tor.

Zum Vergleich: Von 143 Millionen Staatsbürgern bekennt sich nur eine halbe Million zum Katholizismus, während 58 Prozent angeben, der Orthodoxie nahe zu stehen. Das Moment der nationalen Identitätssuche spielt dabei wohl eine größere Rolle als die Suche nach religiösem Halt. Der Grund: Die Kirche hat es versäumt, dem Bedürfnis ihrer Schäfchen nach Seelsorge Rechnung zu tragen. Die Angst vor sinkendem Zuspruch veranlasste die orthodoxe Kirche sogar, vor der Volkszählung im Oktober die Frage der Religionszugehörigkeit streichen zu lassen. Hätten sich weniger als die Hälfte zu ihr bekannt, wäre der Anspruch, wieder in die Funktion einer Staatskirche eingesetzt zu werden, leicht ins Wanken geraten.

Es ist kein Zufall, dass das Moskauer Bildungsministerium unlängst den Schuldirektoren im Lande nahe legte, Religionsunterricht einzuführen – getarnt als kulturwissenschaftliches Fach: „Grundlagen der orthodoxen Kultur“. Die Entscheidung über den Unterricht sollen die regionalen Behörden treffen. Die patriotische Hysterie zurzeit wird schon dafür sorgen, dass kein Schulleiter es wagt, sich der Verordnung zu widersetzen. Gleiches, so fürchten aufgebrachte Leser der hauptstädtischen Presse, drohe auch Kindern, die am Unterricht nicht teilnehmen möchten. Sie würden zu Aussätzigen, da sie den Boden der nationalen Gemeinschaft verließen. Die synonyme Verwendung von „russisch“ und „orthodox“ im politisch-klerikalen Diskurs ist sicherlich keiner semantischen Nachlässigkeit geschuldet.

Um Platz für Religion zu schaffen, wurden schon Klassiker aus dem Literaturunterricht gestrichen. Nun heißt es: Heiligengeschichten statt Tolstois „Krieg und Frieden“ oder Dostojewskis „Schuld und Sühne“. In Saratow meldete sich unterdessen der Gouverneur mit der Forderung zu Wort, die Trennung zwischen Staat und Kirche aufzuheben.

Moskaus Patriarch Alexei begrüßte die Einladung zur symbiotischen Machtgestaltung und brach eine Lanze für „die echten Priester“. Mögen sie auch „mit Fischgräten im ungekämmten Bart herumlaufen – es sind die eigenen, vertrauten, russischen“. Man brauche „keine Pfarrer mit Schlips und Absätzen“.