„Hinne dicht, vorne Konter!“

Beim 0:0 seines OGC Nizza in Straßburg kann sich Trainer Gernot Rohr nicht nur für den erstaunlichen Erfolg des Aufsteigers feiern lassen, sondern stößt nahe der Heimat auf jede Menge Erinnerungen

aus Straßburg TOBIAS SCHÄCHTER

Am Ende wollte Gernot Rohr nur noch eins: Sauerkraut essen. Der Trainer des OGC Nizza stand im Presseraum des Straßburger Stadions La Meinau, freute sich diebisch über ein 0:0 seiner Mannschaft bei Abstiegskandidat Racing Straßburg und hatte Hunger. Aber Hunger vergeht, wenn elsässisches Bier den Durst löscht und die Ohren vertraute Stimmen aus der Kindheit hören. Gernot Rohr stammt aus Mannheim. Nur 130 Kilometer sind es von dort bis nach Straßburg, und so mutierte die dritte Halbzeit zu einem Familientreffen kurz vor Weihnachten.

Alte Mannheimer Weggefährten wie Rainer Ulrich waren da, der jetzt als Scout für Nizza unterwegs ist. Zwei Brüder mit ihren Söhnen begrüßten den Jüngsten der sechs Rohr-Brüder. Günter, 63, der Älteste, haute Anekdoten raus, wie er früher als Stopper des VfL Neckarau die Stürmer umsäbelte, ungefragt und am laufenden Band: „Unser Vadder hat immer mit fünf, sechs Starke hinne gespielt und mit zwei, drei Schnelle vorne. So lässt der Gernot auch spielen.“ Das Erfolgsgeheimnis des OGC Nizza liegt also im Süden: im Mannheimer Süden.

Fips Rohr war Trainer des Mannheimer Stadtteilklubs VfL Neckarau Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre. Fünf seiner sechs Söhne, darunter auch Günter und Gernot, spielten in dieser Mannschaft in der Regionalliga. Fips war kein Freund der großen Worte. Seine Maxime lautete: „Hinne dicht, vorne Konter!“ So was prägt. Nizza spielte so ähnlich in Straßburg. Es drängt sich die Frage auf, ob es nicht ein Armutszeugnis für die französische Liga ist, wenn ein „Bautrupp“ (Günter Rohr) wie Nizza nach der Vorrunde auf Rang zwei steht. „Es zeigt doch eher, dass man mit Kampfgeist und Solidarität den Favoriten trotzen kann“, entgegnet einer, der sich in seiner Kindheit beim Kicken am Neckarufer gegen die älteren Brüder durchzusetzen lernte. Ein Behauptungswille, der Gernot Rohr, 49, zum Retter des OGC Nizza werden ließ.

Sportlich in die erste Liga aufgestiegen, verwehrte der Kontrollausschuss des französischen Fußballverbandes den Südfranzosen die Lizenz. Vier Millionen Euro fehlten. Rohr ging Klinken putzen. Mannschaft und Trainer verzichteten auf die Aufstiegsprämie, und Gernot Rohr schaffte es zwei Wochen vor Saisonbeginn, die Lizenz doch noch zu erringen, „dubiose italienische Investoren aus dem Verein zu boxen“ und die vier Millionen aufzutreiben. „Nizza ist das größte Abenteuer meiner Karriere“, erzählt Rohr, der mit einem Team unbekannter und gestrandeter Kicker die Liga aufmischt. Es stimmt schon, lacht er: „Hinne dicht, vorne Konter!“ Was will man auch sonst machen, mit einem Etat von 15 Millionen Euro, dem kleinsten der Liga.

„Es fehlt noch ein Stürmer“, meint Günter Rohr, „so einer wie der Ossi.“ Beim Klang dieses Namens rücken alle noch enger zusammen. Die älteren Straßburger stoßen zur Runde. „Oh Jesses, de Ossi“, flüstert einer ergriffen und fasst Gernot Rohr am Arm. Oskar „Ossi“ Rohr ist der Großonkel von Gernot Rohr. 117 Tore erzielte er insgesamt für Racing Straßburg. Keiner hat je mehr geschossen. Ein Mittelstürmer, wie er im Buche steht, ein Draufgänger.

Ossi Rohr ist eine Legende. Ein Leben wie ein Film. Früh ging er in die Schweiz, zu den Grasshoppers nach Zürich. Aus Zürich, wo ihm Gefängnis drohte, warum weiß keiner so genau, schmuggelte man ihn im Kofferraum eines Autos über die Grenze ins Elsass zu Racing. Er kämpfte für die französische Armee gegen die Nazis, wurde in Marseille von der Gestapo geschnappt und ins Konzentrationslager geschleppt. Wie er da wieder rauskam, ist ungeklärt. Nach Günter Rohrs Version setzten sich Fußballfans in der Gestapo für ihn ein. Vor zehn Jahren starb Ossi. Sein Grab ist in Mannheim. Dort würde er sich umdrehen, wenn er sähe, was aus seinem ehemaligen Klub geworden ist, glaubt der ältere Elsässer und lässt Gernot Rohrs Arm los.

Racing Straßburg hatte immer integrative Kraft für die Elsässer, auch wenn der Klub im Würgegriff der Eitelkeiten konkurrierender lokaler Größen schon oft gegen die Wand gefahren wurde. Doch seit 1997 der amerikanische Vermarktungsgigant IMG das Ruder bei Racing übernahm, geht die Identifikation der Elsässer mit ihrem Klub gegen null. „Es ist traurig“, seufzt der alte Mann und fragt verzweifelt: „Wo sind die Ossi Rohrs beim Racing?“

Nizzas Mannschaft wartet längst im Bus, sie hat Hunger. Der italienische Co-Trainer kommt, den Chef holen „Das Sauerkraut ist schon kalt“, witzelt er in bestem Deutsch. „Allez“, ruft Gernot Rohr und steigt in den Bus. Weihnachten verbringt er in seinem Haus nahe Bordeaux, wo er immer noch wohnt, seit er als Spieler vor 25 Jahren bei Girondins anheuerte. Dort wartet sein vor wenigen Tagen geborener Sohn. Er heißt Oskar. „Oh Jesses“, haucht der alte Elsässer und bittet die Rohr-Brüder zum Abschied: „Ihr müsst dem kleinen Oskar die Geschichte vom Ossi erzählen.“ Keine Angst, sie werden es tun. So sicher, wie „hinne dicht“ und „vorne Konter“ ist.