Ein Vorbild für die Generation der Rache
Asja Gischlurkajewa war eine der Geiselnehmerinnen von Moskau. Zumindest vielen jungen Tschetschenen gilt sie als Märtyrerin
ATSCHKOI-MARTAN taz ■ Es war eine Nacht Ende Oktober, als gegen zwei Uhr morgens eine Explosion in der Uliza Suworowa 25 in der tschetschenischen Stadt Atschkoi-Martan die Anwohner aus dem Schlaf riss. Zwei Stunden suchten Helfer in den schwelenden Trümmern nach Überlebenden. Sie fanden niemanden. Nur aus dem demolierten Nachbarhaus retteten sie ein Ehepaar.
In der Suworowa 25 war zum Zeitpunkt der Detonation niemand mehr. Gegen Mitternacht hatte der russische Geheimdienst die Familie von Asja Gischlurkajewa, der Geiselnehmerin von Moskau, abgeholt: ihre Mutter, deren Schwiegertochter, Asjas sechs Monate alten Sohn und das Kind ihres Bruders. Im Nachthemd und barfuß wurden sie auf ein Feld getrieben. Dort sollten sie wohl erschossen werden, wird in Atschkoi gemutmaßt, hätte nicht ein Offizier mit den weinenden Kindern Mitleid gehabt. Er ließ sie ziehen. Wohin, weiß keiner. Und es will auch niemand so genau wissen. Danach kehrten die Geheimdienstler zum Haus zurück, luden auf Lkws, was sich noch verwerten ließ, und legten die Lunte. Asja Gischlurkajewa war eine der Geiselnehmer, die am 23. Oktober im Moskauer „Nord-Ost“-Theater hunderte von Besuchern eines Musicals als Geisel nahmen. Sie wurde dort von der Polizei getötet. Hätte sie an der Aktion auch teilgenommen, wenn ihr klar gewesen wäre, welches Schicksal dadurch der Familie drohte? Wahrscheinlich. Seit sich die Frau für den fundamentalistischen Islam entschieden hatte, war Allah wichtiger als die Familie.
Asja wird von denen, die sie gut kannten, als eine kluge, nachdenkliche und entschlossene Frau geschildert. Nachdem der Bruder von russischen Soldaten verschleppt wurde, war die 30-Jährige Familienvorstand. Sie packte an und baute das eigene Haus mit aus. Männer gab es in der Familie nicht mehr. Asjas zweiter Ehemann ging bald nach der Hochzeit zu den Rebellen in die Berge – auch er ein Anhänger des fundamentalistischen Wahhabismus. Die studierte Philologin Asja arbeitete unterdessen weiter in der Berufsschule in Atschkoi-Martan. Seit 1998 besuchte sie in der Koranschule einen Arabischkurs. Elsa Mudugowa, Arabisch- und Koranlehrerin, hat für die ehemalige Schülerin nur Lob. Sie sei nicht nur eine hoch intelligente Schülerin, sondern auch als Mensch ein Vorbild gewesen.
Bevor Asja Gischlurkajewa im Oktober nach Moskau aufbrach, nahm sie sich viel Zeit, um sich von Freunden und Bekannten zu verabschieden. Einige wollen etwas geahnt haben: „Zurückhalten hätten wir sie ohnehin nicht können“, meint einer, „Asja setzte durch, was sie sich vorgenommen hatte.“ In der Schule entschuldigte sie sich wenige Tage vor dem Terrorakt, sie müsse wegen einer längeren ärztlichen Behandlung nach Rostow am Don.
Kaum ein Tschetschene wird die Tat der Geiselnehmerin verurteilen. Für ein Volk, das vom Genozid bedroht wird, erschließt sich die differenzierte Terrorlogik der Antiterrorkoalition nicht auf den ersten Blick. „Mit zweierlei Maß messen“, nennt man das hier. Was hätten sie denn schon Verbotenes getan? Das Ende eines Krieges zu fordern? Die Toten im Theater werden der russischen Seite zugeschrieben. In der Tat haben die Terroristen, obwohl ausreichend Zeit gewesen wäre, keinen Sprengsatz gezündet – Asja Gischlurkajewa gilt wie die anderen 32 Geiselnehmer als Märtyrerin, zumindest den Jüngeren, die selbst nur auf eine Chance warten, sich für Glauben und Volk zu opfern. Die Generation der 10- bis 15-Jährigen lebt schon jetzt streng nach den Gesetzen des Korans und mahnt Vater und Mutter zu einem Leben nach der göttlichen Lehre. Es sind die Jungen, die den Alkohol verdammen und nicht verstehen, warum die Eltern sich ungläubigen Russen unterwerfen. KLAUS-HELGE DONATH