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Patientenorientierte Versorgung

Im Gießener ITZ können Psychiatriepatienten zwischen einer vollstationären offenen Betreuung, einer tagesklinischen, einer nachtklinischen oder einer ambulanten Behandlung auswählen. Das Pilotprojekt vereinigt die bisher getrennt angebotenen Behandlungsmöglichkeiten unter einem Dach

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

„Alles aus einer Hand“ – so lautet das Motto des Integrierten teilstationären Zentrums (ITZ) der Universitätsklinik Gießen, das psychisch Kranke behandelt. Das Besondere am ITZ: Es will seinen Patienten ausreichend Halt und Geborgenheit bieten und damit ein Manko der deutschen Psychiatrie beseitigen. Denn die Gründer des ITZ – Michael Franz, Bernd Hanewald und Martin Niepel – hatten festgestellt, dass das deutsche Versorgungssystem die Bindung an vertraute Personen und Orte sehr erschwert.

Dabei ist eine solche Bindung von entscheidender Bedeutung für den Behandlungserfolg. Bereits 1981 bemerkte der Berner Psychiater Luc Ciompi, dass eine komplizierte, sich häufig verändernde Umwelt den psychisch Kranken noch kränker macht. Sicherheit, Übersichtlichkeit und wenig Wechsel sind dagegen „optimale therapeutische Milieueinflüsse“. Denn psychisch kranke Menschen reagieren sensibler auf äußere und innere Einflüsse.

Diese Empfindsamkeit – auch Vulnerabilität genannt – bewirkt, dass sie weniger gut mit Stress, Belastungen und inneren und äußeren Konflikten zurecht kommen. In diesem Sinne machen häufige Beziehungsabbrüche und wechselnde Bezugspersonen krank, gleichbleibende Bezugspersonen und Behandlungsprogramme dagegen gesund.

Dies wird jedoch im deutschen Versorgungssystem kaum beachtet: Die Therapie psychisch Kranker besteht aus einer Kette verschiedener Behandlungsschritte, die alle aus unterschiedlichen Töpfen und nach verschiedenen Regeln finanziert werden. So gibt es klinische Stationen, Nachtkliniken, Tageskliniken, Institutsambulanzen, niedergelassene Nervenärzte, Tagesstätten, betreutes Wohnen und vieles andere mehr.

Alle diese Einrichtungen haben eigene Konzepte, eigene Leitungen, eigenes Personal und eine eigene Finanzierung. Im Verlauf seiner Erkrankung ist ein Patient gezwungen, zahlreiche Verlegungen hinzunehmen. Immer wieder muss er vertraute Räume, Therapeuten und manchmal sehr wichtige Mitpatienten verlassen und neue kennen lernen. Die Organisation richtet sich nach der Institution und nicht nach dem Menschen.

Die Grenzen zwischen den einzelnen Institutionen müssen überwunden und die Behandlung patientenzentriert werden – dies ist die Meinung zahlreicher Experten. Das Gießener ITZ ist ein Pilotprojekt zur Umsetzung dieser Theorie in die Praxis. Die bisher in der klinischen Versorgung räumlich, personell und finanziell getrennten Behandlungs- und Betreuungsangebote sind miteinander vereinigt.

Das ITZ befindet sich in erreichbarer Nähe des Universitätsklinikums Gießen in einem normalen Haus eines Wohngebietes, etwa 15 Gehminuten von der Innenstadt entfernt. Es werden Patienten von niedergelassenen Praxen, von Krankenhausstationen, aus der Gemeindepsychiatrie oder Patienten, die aus eigenem Antrieb kommen, aufgenommen. Die meisten der Patienten leiden an einer Schizophrenie, einer Depression oder an einer Persönlichkeitsstörung.

Von Anfang an erhält jeder Patient eine Versorgung, die sich ausschließlich nach seinem Bedarf richtet. Er kann zwischen einer vollstationären offenen Betreuung, einer tagesklinischen, einer nachtklinischen oder einer ambulanten Behandlung auswählen. Die Therapie ändert sich – patientenorientiert – im Laufe der Krankheitsphasen, die Behandelnden und die Räumlichkeiten dagegen bleiben gleich.

In einem Café neben dem ITZ treffen sich nicht nur Patienten und Angehörige, sondern auch die „Normalbevölkerung“ kann an Informationsveranstaltungen teilnehmen. So können ehemalige Patienten die Bindung zum ITZ aufrecht erhalten. Ziel ist es, eine oft bestehende Hemmschwelle für eventuell notwendige weitere Behandlungen abzubauen.

Das ITZ bedarf keiner besonderen finanziellen Zusatzausstattung, sondern kann auf dem Boden bestehender Gesetze verwirklicht werden. Daher ist das Zentrum keine Luxuseinrichtung, die besonderer finanzieller Zuschüsse bedarf. Im Gegenteil: Erwartet wird vielmehr eine Abnahme der vollstationären Behandlungszeiten, da der Übergang in eine teilstationäre Behandlung ohne Verlegung sofort möglich ist.

Das Gleiche gilt für die ambulante Betreuung. Michael Franz – Leiter des ITZ – ist stolz auf das Erreichte: „Der Leitsatz einer ökonomischen, aber guten psychiatrischen Behandlung – so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig – kann nirgends so gut verwirklicht werden wie im ITZ.“

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