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„Diese Mütter und Väter sind keine Rabeneltern“

Nicht nur eine Weihnachtsgeschichte. Ein junges Paar bringt sein Neugeborenes vor dem Fest in eine Babyklappe und holt es später wieder ab. Trotzdem hält die Diskussion über die Berechtigung der Klappen an. Die Hemmschwelle, sich des Kindes zu entledigen, wird gesenkt, sagen Kritiker

Das Plakat, auf dem eine hochschwangere Frau abgebildet ist, hängt in der U-Bahn neben der Werbung für Zeitarbeit-Jobs: „Wir nehmen dein Kind, wenn niemand es will – ohne Fragen, ohne Strafe.“ Es folgt eine Telefonummer, unter der die Adressen von fünf Berliner Krankenhäusern erfragt werden können, die Babyklappen eingerichtet haben. „Es gibt Frauen, die während ihrer Schwangerschaft in so einer verzweifelten Situation sind, dass sie nach der Geburt ihres Kindes keine andere Möglichkeit sehen, als dieses auszusetzen oder zu töten“, heißt es auf der Homepage der Organisatoren. Den Säugling in einer Babyklappe abzulegen heiße, das Kind in fürsorgliche Hände zu geben.

Vielleicht war es das Plakat in der U-Bahn, vielleicht auch die Homepage, die ein junges Paar zu der Babyklappe im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede geführt hatten. Die rührselige Story vom anonym abgegebenen, später aber wieder heimgeholten Säugling ging durch alle Medien, nachdem sie von der Berliner Morgenpost in der Heiligabend-Ausgabe in großen Lettern als „Weihnachtsgeschichte 2002“ verkauft worden war. Für die Befürworter der Babyklappen, die sich anhaltender Kritik ausgesetzt sehen, ist der Fall Wasser auf die Mühlen. „Die Geschichte hat mich absolut darin bestärkt, dass es richtig ist, an der Einrichtungen festzuhalten“, sagt der Chefarzt für Gynäkologie vom Krankenhaus Waldfriede, Siegbert Heck. Auch die Leiterin des Landesjugendamtes, Ulrike Herpich-Behrens, freut sich über das Happy-End. Gleichzeitig macht sie aber keinen Hehl aus ihrer Skepsis, was die Existenzberechtigung der Babyklappen angeht. Die, befürchtet Herpich-Behrens, setzten die Hemmschwelle angehender Mütter herunter.

Es geschah in den Tagen vor Weihnachten: Ein junges Paar bringt einen frisch geborenen Säugling zur Babyklappe im Waldfriede. Das Kind, das in einem Badezimmer zur Welt gekommen und vom Vater abgenabelt worden war, ist nur in ein Handtuch gewickelt. Das Klinikpersonal umsorgt das Findelkind rührend und gibt ihm den Namen Thomas. Drei Tage später klingelt auf der Neugeborenenstation das Telefon. Mit zittriger Stimme meldet sich eine junge Frau und fragt, ob sie ihr Baby wiederhaben darf. Im Waldfriede sind zwar schon etliche Säuglinge abgegeben worden, aber dass eine Mutter die Entscheidung revidiert, haben Chefarzt Heck und die Pastorin Gabriele Stangl noch nicht erlebt. Die beiden legen der Frau keine Steine in den Weg, sondern unterstützen sie nach besten Kräften. Nach den Bestimmungen können Mütter ihr Kind bis zu acht Wochen nach Abgabe in der Babyklappe zurückholen. Stangl und Heck sprechen mit den Behörden, sorgen dafür, dass das junge Paar Unterstützung bei der Pflege bekommt. Der Chef der jungen Frau ist damit einverstanden, dass diese ihre Ausbildung ein Jahr lang unterbrechen kann, später will er sie sogar einstellen. Auch die Großeltern wollen helfen.

„Den Gefühlszustand der Mutter kann man nicht beschreiben“, sagt Heck. Nach dem Erlebnis sei er überzeugter denn, dass die Klappen wichtig sind. „Das sind keine Rabeneltern, die einfach ihr Kind wegschmeißen, sondern Eltern in größter Not, die trotz allem verantwortungsvoll handeln.“

Sie würde keiner Mutter unterstellen, sich leichtfertig ihres Kindes zu entledigen, sagt Jugendamtsleiterin Herpich-Behrens. Aber sie habe ihre Zweifel, ob all die Frauen, die ihre Kinder in den Babyklappen abgelegt hätten, dies immer aus höchster Not und zur Abwendung von Gefahr für das Kind täten. Auf jeden Fall seien die Plakate in der U-Bahn dazu angetan, die Hemmschwelle zu senken.

Bestätigt fühlt sich die Jugendamtsleiterin durch die Statistik. Trotz Einführung der Babyklappen – das Waldfriede hat in Berlin im September 2000 den Anfang gemacht – sei die Zahl der getöteten Neugeborenen im Vergleich zu vorher gleich geblieben. Jedes Jahr würden zwei bis vier Babys tot aufgefunden. Die Zielgruppe der Mütter, die nach der Geburt in so einem psychischen Ausnahmezustand seien, dass sie das Kind töteten, werde demzufolge durch die Babyklappe nicht erreicht. Deutlich zugenommen habe demgegenüber die Zahl der in der Klappe abgelegten Kinder und auch die Zahl der Mütter, die ihre Kinder anonym im Krankenhaus mit dem Ziel der Freigabe zur Adoption zur Welt brächten. Diese Entwicklung führt Herpich-Behrens auf das Sinken der Hemmschelle zurück, das durch Einrichtungen wie die Babyklappe begünstigt werde.

Chefarzt Heck bestätigt, dass die Zahl der Mütter, die anonym gebären wollen, seit Einführung der Notrufnummer „Babyklappe“ deutlich gestiegen ist. 80 Prozent dieser Mütter, die über die Notrufnummer der Babyklappe ins Waldfriede gelangten, wollten ihr Kind nach der Geburt dann aber doch behalten. Ohne das durch die Babyklappe entstandene krankenhausinterne Hilfesystem, befürchtet Heck, würden mehr Kinder aus Panik „einfach weggeworfen“.

PLUTONIA PLARRE

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