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Der Blick dahinter

betr.: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst?“, intertaz vom 23. 12. 02

Man wird den Eindruck nicht los, in Zeiten intellektueller und reflexiver Faulheit zu leben. In meinen Augen war die so genannte political correctness ein Ausdruck davon, ersetzte sie doch eine differenzierte Auseinandersetzung mit sich selber und anderen (Vorsicht: intellektuelle Anstrengung!) durch Tabus und die formelhafte Übernahme unzulänglicher Selbstbeschreibungen (ich bin weiß, deutsch, Frau etc.). Die im Mainstream und nun leider auch von vielen progressiven Kräften geäußerte Kritik an der political corrrectness übertrifft diese intellektuelle Faulheit allerdings noch um ein Mehrfaches: political correctness ist einengend, tabuisierend, und also mache ich mich frei und darf endlich wieder alles sagen, was ich will, ohne vorher nachzudenken oder mir die Folgen bewusst zu machen.

Beide Wege sind meiner Ansicht nach grundfalsch. Und natürlich fühle ich mich als Frau in Kreuzberg manchmal auch unwohl angesichts die Straße beherrschender türkischstämmiger Jungmänner (aber auch angesichts „deutschen“ Jungmännergehabes in bestimmten anderen Bezirken). Das zu äußern ist legitim und wichtig. Aber trotzdem sollten diese Ressentiments nicht die Augen dafür verschließen, dass es in allen Kulturen (hier nicht im ethnischen Sinne gemeint) und Gemeinschaften progressive Strömungen gibt, die es sich lohnt anzuschauen und zu unterstützen. Leider wird über diese Strömungen und Tendenzen viel zu wenig berichtet, und eine ehrliche Auseinandersetzung über gemeinsame und trennende Ziele steht noch aus. Denn die aus einem anderen kulturellen Hintergrund entstandenen emanzipatorischen Ansätze und Bewegungen sind sicherlich nicht identisch mit denen unserer eigenen Kultur.

Tatsache ist jedoch, dass wir in einem Land und einer Stadt mit sehr vielen unterschiedlichen Kulturen und Werten leben, dies auch schon immer getan haben, wenn man den Kulturbegriff von einer ethnischen Bestimmtheit trennt. Und dass Fremdheit bzw. Befremdung eine natürliche Reaktion ist. Ich muss bei weitem auch nicht alles tolerieren und akzeptieren, was meinen Werten widerspricht. Allerdings fehlte mir in der bisherigen Auseinandersetzung mit diesem Problem immer das, was den beiden AutorInnen des oben genannten Artikels gelungen ist: der Blick dahinter und eine Perspektive, die jenseits der Angst ist.

SUSANNE LUDWIG, Berlin

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