Tochter eines NSU-Toten erinnert sich: „Ich will nicht ewig Opfer sein“
Mehmet Kubaşik wurde vom NSU erschossen. Seine Tochter erinnert sich an den Mord – und an den Albtraum, der folgte. Vorabdruck aus einem neuen NSU-Buch.
Samstagabends oder sonntags, wenn nur wenige Menschen auf der Straße sind, die mich beobachten oder Fragen stellen könnten, besuche ich meinen Vater. Mein Vater ist tot. Er ist weit weg in der Türkei begraben. Aber nur wenige Straßenecken von unserer Dortmunder Wohnung entfernt ist mittlerweile ein Gedenkstein in den Bürgersteig eingelassen mit seinem Namen. Das ist für mich wie das Grab meines Vaters. Dort kann ich jetzt mit ihm sprechen.
Manchmal bringe ich ihm Blumen mit oder knie auf dem Bürgersteig nieder und erzähle meinem Vater von uns – von meinen jüngeren Brüdern, von meiner Mutter, von meiner Ausbildung. Ich berichte darüber, was wir so machen und wie unsere Situation ist. Heute erzähle ich ihm dann, dass es nicht mehr ganz so schlimm ist – nicht mehr so schlimm wie damals.
Damals, als wir nicht wussten, warum er sterben musste und wer die Täter waren. Ich schildere ihm, welche Last von mir abgefallen ist, seit im November 2011 aufgeklärt wurde, dass der rechtsextremistische NSU hinter der Mordserie steckt, der auch er zum Opfer fiel.
Ich sage ihm, wie gut es tut, dass wir als Familie endlich nicht mehr verdächtigt werden. Und dass ich dadurch wieder so weit meine innere Ruhe gefunden habe, dass ich aus dem Haus gehen kann, ohne Angst zu haben, dass mir jemand komische Fragen stellt. Ich kann mich wieder auf der Straße bewegen, ohne dass jemand mit dem Finger auf mich zeigt oder hinter meinem Rücken Dinge erzählt, die einfach nicht stimmen. Ich weiß zwar, dass die Leute immer noch über uns reden. Aber heute spricht man ganz anders über uns als all die Jahre, in denen wir wie Kriminelle gemieden wurden und mit unserem Schmerz allein gelassen waren.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“; Barbara John (Hrsg.); Verlag Herder; erschienen am 4.11.2014.
Der Gedenkstein für meinen Vater liegt in der Dortmunder Mallinckrodtstraße, direkt vor dem Kiosk, in dem mein Vater Mehmet im April 2006 erschossen wurde. Früher war dieser Kiosk unser Familienmittelpunkt. Ich war sehr oft da und habe meinem Vater geholfen. Nachdem er dort getötet wurde, konnte ich jahrelang keinen Fuß in die Straße setzen. Erst seit der Gedenkstein dort liegt, traue ich mich wieder dorthin. Die Jahre vorher habe ich immer wieder versucht, mich zu zwingen: Gamze, schau in den Kiosk rein. Geh wenigstens mal die Straße entlang. Aber ich konnte es einfach nicht. Da waren immer die schlimmen Bilder im Kopf von dem Tag, als es passierte.
An dem Tag ging ich noch auf die Berufsschule für Wirtschaft und Verwaltung. Es war an einem Dienstag. Gegen 13 Uhr bin ich in der Mallinckrodtstraße angekommen mit einer Kundin, die oft bei uns eingekauft hat. Sie war die Erste, die schon von weitem die Polizeiautos gesehen hat, aber ich dachte nur, na ja, da hat wohl jemand Ärger gehabt. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass das etwas mit uns zu tun haben könnte. Kurz vor dem Kiosk hörte ich einige Leute sagen: „Oh nein, da kommt ja die Tochter.“
Vor unserem Kiosk hielt mich ein Polizist an der Absperrung zurück: „Sie können da nicht rein, haben Sie die Absperrung nicht gesehen!“ Als ich sagte, dass ich die Tochter des Besitzers sei, bat er mich ins Polizeiauto. Zuerst hat man mir gesagt, mein Vater sei verletzt. Ich wollte unbedingt zu ihm, weil mein Vater nicht so gut deutsch sprach, wenn er aufgeregt war. Ich wollte für ihn übersetzen. Doch nach wenigen Minuten sagte man mir: „Ihr Vater ist tot.“ (...)
Einen Tag nach dem Tod meines Vaters wurden wir von der Polizei abgeholt und vernommen. Wir Kinder wurden getrennt von meiner Mutter befragt. Wir hatten keine Ahnung, was passiert war. Und dann fingen diese Fragen an: Hatte Ihr Vater Feinde? Mit wem hatte er Streit? Hat er irgendwelche Drogengeschäfte am Laufen? Das waren Fragen, die mit der Person meines Vaters überhaupt nichts zu tun hatten! Ich war mir plötzlich ganz unsicher und habe mehrmals gefragt: „Sind Sie sicher, dass es mein Vater ist, der da getötet worden ist?“ Die Fragen passten einfach nicht zu ihm.
Die Polizisten antworteten nur: „Aber Mehmet Kubaşik, das ist doch ihr Vater?“ Ich fragte: „Ja, aber der Verdacht, den Sie haben, was hat der mit ihm zu tun?“ Dann sitzt da ein Polizist vor einem und behauptet, für diesen Verdacht gebe es Beweise. Heute weiß ich: Das war einfach gelogen. Man wollte mit den falschen Unterstellungen nur etwas aus uns herauskriegen, was nicht die Wahrheit war. Man wollte von uns hören, dass mein Vater mit Drogen gehandelt oder irgendetwas mit der Mafia zu tun hatte. Man hat ihm auch unterstellt, er hätte irgendetwas mit anderen Frauen gehabt. Wie kommt man nur auf solche Fragen? Welches Bild von uns steckte dahinter? (...)
Und dann kamen die ganzen Gerüchte. Nach einigen Wochen fing es an. Mein zweitkleinster Bruder Ergün kam vom Spielen im Hof heulend nach Hause. Er fing an, andere zu verprügeln. Dann haben wir rausgekriegt, dass die anderen Kinder aus dem Haus ihn beschimpft hatten: „Dein Vater war kein guter Mensch, er hat Drogen verkauft.“ Mein Bruder wurde daraufhin aggressiv, hat dann auch zugeschlagen, bekam Probleme in der Schule. Die Lehrerin rief an, Ergün hätte ständig Stress mit anderen Schülern. Er selbst sagte nie warum. Im Gespräch haben wir schließlich rausgekriegt, dass sie auch an der Schule schlecht über meinen Vater geredet hatten. (...)
„Mein Herz raste“
Zu der Zeit wollte ich meine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau anfangen. Ich hatte schon eine Lehrstelle in Münster gefunden. Mein Vater hatte mich noch zum Vorstellungsgespräch gefahren. Und dann kam mein erster Ausbildungstag. Ich hatte mich darauf gefreut, denn es war schön, dass da etwas Neues begann. Ich dachte noch, endlich kommst du auf andere Gedanken. Dann wurde der Tag zu einem der schlimmsten meines Lebens. Ich ging morgens aus dem Haus, stand am Dortmunder Hauptbahnhof und plötzlich fing das an: Ich sah eine Menschenmenge um mich herum und habe jeden Einzelnen verdächtigt.
Im Zug zitterten meine Hände wie nie zuvor. Mein Herz raste, ich hatte Schweißausbrüche. Und dann stieg kurz vor Münster ein Mann mit Basecap und Fahrrad in den Zug ein. Ich habe sofort gedacht: Das ist er. Das ist der Mann, der meinen Vater ermordet hat. Denn ich wusste ja, die Täter waren mit einem Fahrrad zum Kiosk gekommen. Ich geriet in Panik: Jetzt kommt der Mörder gleich auf dich zu und wird dich erschießen. Als ich in Münster ausstieg, fuhr der Mann weiter, aber ich glaubte immer noch, er sei hinter mir her. (...)
Die Angst ließ erst nach, als im November 2011 endlich klar war, wer meinen Vater umgebracht hatte. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern. Meine Mutter war in der Türkei und ich war hier mit meinen Geschwistern und meinem Mann. Gegen 18 Uhr rief meine beste Freundin an: „Wie geht's dir?“ Aber dann stellte sie so komische Fragen. Schließlich sagte sie: „Mach den Fernseher an. Hast du das denn gar nicht mitbekommen?“ Und dann hat sie mir erzählt, was in den Nachrichten berichtet worden war.
Ich wollte es zunächst gar nicht glauben. Ich dachte, das ist bestimmt wieder eines dieser Gerüchte. In zwei Tagen ist das wieder vergessen. Doch dann hab ich den Fernseher angestellt und im Internet recherchiert und da hatte ich zum ersten Mal seit fünf Jahren das Gefühl: Ja, das stimmt. Das ist es. Jetzt haben wir die Wahrheit. Ich geriet darüber völlig außer mir. Ich habe meine Mutter in der Türkei angerufen, habe geschrien und geweint bis mein Mann mir den Hörer aus der Hand genommen und mich beruhigt hat.
Die ersten Stunden danach war ich so aufgeregt, dass ich nicht still sitzen konnte. Aber als ich am Abend im Bett lag, spürte ich, welche Last ich all die Jahre auf mir gehabt hatte, welche Qual! Und dann fiel alles von mir ab. Obwohl ich die ganze Zeit sicher war, dass die Täter nur Rechtsradikale gewesen sein konnten, war die Gewissheit eine Riesenerleichterung. Ich hatte das Gefühl, jetzt haben wir es all den Leuten gezeigt, die immer schlecht über uns geredet haben. (...)
Einiges ist auch komplizierter geworden. Ich bin hier aufgewachsen. Deutschland ist meine Heimat. Aber die Tatsache, dass mein Vater umgebracht wurde, weil die Täter in ihm nur einen „Ausländer“ gesehen haben, verändert mein Gefühl zu diesem Land. Ich will das nicht richtig wahrhaben. Ich verdränge die Erkenntnis, dass mein Vater als Deutscher in diesem Land gelebt hat, aber mit seinen schwarzen Haaren und seinen dunklen Augen der ständige Türke oder Kurde geblieben ist. (...)
Das hat vieles in mir verändert. Es gibt Tage, an denen ich alles hier verfluche und in die Türkei oder irgendwohin anders auswandern möchte. Ich denke dann: Dieses Land will dich nicht. Es hat dir deinen Vater weggenommen. Und ich falle in eine tiefe Trauer. Aber wenig später motiviere ich mich auch wieder: Hey, das ist auch dein Land! Du bist hier aufgewachsen, du bist hier zur Schule gegangen, deine Geschwister sind hier geboren. Ich bin sicher, wenn ich mich als Deutsche fühle, kann mir das keiner wegnehmen. Ich bin Teil derselben Gesellschaft, aus der auch diese Rechtsradikalen gekommen sind.
„Heute fühle ich Wut“
Eigentlich bin ich eine Person, die immer mit allen gut klar kommt. Meine Mutter sagt oft, das hätte ich von meinem Papa. Mein Vater liebte die Menschen und hat alle akzeptiert, egal ob sie anders aussahen oder anders gedacht haben. Und so bin ich eigentlich auch. Aber heute weiß ich, was es heißt, jemanden zu hassen. Wenn ich diese Rechten auf der Straße gesehen habe mit ihren kurzgeschorenen Haaren und ihren Stiefeln, dachte ich vor einiger Zeit noch: Hilfe, das ist ein Nazi, der will bestimmt deine Brüder und deine Mutter umbringen. Heute habe ich keine Angst mehr. Heute fühle ich Wut.
Früher habe ich mich kaum mit dem Thema Rechtsradikalismus beschäftigt. Jetzt ist man da plötzlich mittendrin. Ich habe mir viele Bücher besorgt und viel darüber gelesen, woran man diese Nazis erkennen kann, welche Marken sie tragen, welche Tätowierungen. Wenn ich auf der Straße jemanden sehe, der diese Kennzeichen trägt, dann starre ich den so an, dass mein Mann mich am Arm packt: „Gamze, komm zu dir, du springst den ja gleich an.“ Ich kann einfach nicht verstehen, wie jemand Nazi sein kann. Ich will es auch nicht verstehen. Es stört mich, dass jemand, der so denkt, mit mir in einer Gesellschaft lebt. Manchmal sage ich mir: Akzeptiere es einfach. Ein paar verrückte Nazis wird es immer geben. Aber es regt mich auf. Und es regt mich auf, dass die Politik und die Gesellschaft so wenig dagegen tun. (...)
Ich will so oft wie möglich in dem Prozess in München sein, um zu zeigen: Wir sind da. Das war auch der Grund, weshalb ich 2012 gemeinsam mit Semiya Şimşek, der Tochter des ermordeten Enver Şimşek, all meinen Mut zusammengenommen und bei der großen Gedenkfeier am Gendarmenmarkt gesprochen habe. Es war sehr aufregend, vor so vielen Menschen zu sprechen, vor lauter Fernsehkameras. Aber Semiya und ich wollten der Öffentlichkeit zeigen: Wir, die Kinder, die Familien wir leben hier und wir leben weiter. Wir wollten zeigen, wie es uns ergangen ist, wie schwer unsere Situation war, aber dass wir trotzdem stark geblieben sind. Das war uns sehr wichtig. Es war anstrengend, aber es hat auch viel Kraft gegeben.
Überhaupt traue ich mir jetzt Dinge zu, an die ich zuvor nie gedacht habe. Inzwischen fällt es mir auch wieder leichter, an die Zukunft zu denken. Ich schmiede Pläne. Ich freue mich auf einen neuen Beruf. Ich träume von einem tollen Haus, von Reisen, und von schönen Dingen, die ich mit meiner Mutter, meinen Geschwistern und meinem Mann noch machen könnte. Und irgendwann möchte ich auch Kinder haben. Ich habe nach der Heirat bewusst den Familiennamen Kubaşik behalten. Ich wollte meinen Namen nicht abgeben, weil ich glaube, mein Vater hätte das nicht gewollt. Er war so stolz auf mich als Tochter, und so kann ich sein Andenken weitertragen.
Bis zu dem Zeitpunkt, ab dem klar war, wer wirklich hinter dem Tod meines Vaters steckt, wollte ich der Öffentlichkeit immer zeigen, was für ein Mensch er war. Ich wollte sein Bild geraderücken. Ich musste ihn immer verteidigen. Aber allmählich wird mir klar: Seit ich 22 Jahre alt bin, habe ich nur an meinen Vater und die Umstände seines Todes gedacht. Nie an mich. Jetzt fange ich langsam an, nicht mehr nur Tochter zu sein. Ich fühle eine Last von meinen Schultern fallen und spüre: Ich habe eine Zukunft. Ich will wieder normal leben. Ich will nicht ewig Opfer sein.
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