Proteste in Istanbul: „Schlaf nicht, Beşiktaş!“
Der Gezi-Park ist voll, als die Polizei das Camp stürmte. In den Stunden danach herrscht auf den Straßen Istanbuls Chaos. Das Protokoll einer gewaltsamen Nacht.
12.30 Uhr, Gezi-Park: Die Besetzerinnen und Besetzer haben in zähen Diskussionen entschieden, weiterzumachen. Warum sollten sie auch nicht, schließlich hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bislang keinerlei Zugeständnisse gemacht.
16.00 Uhr: Die Stimmung ist so ausgelassen, wie seit der Stürmung des Taksimplatzes am Dienstag nicht mehr. Mit einem Bagger wird der Schutt an der Südseite des Parks hin zum Taksimplatz beiseite geräumt. Für morgen soll hier eine Bühne errichtet werden.
16.20 Uhr: Die vom Platz vertriebenen „Antikapitalistischen Muslime“ sind wieder da und haben das einzige Transparent, das sie retten konnten („Eigentum gehört Gott“) vor ihrer neuen Zeltmoschee im Gezi-Park aufgestellt.
16.30 Uhr: Gewerkschafter halten in der Mitte des Parks eine Kundgebung ab. Leute tanzen zu den Klängen von Davul-Zurna, bringen Unterstützern Isomatten, Kleidung, Lebensmittel und andere Hilfsgüter mit. Die allgemeine Einschätzung lautet: Da sie bis heute nicht geräumt haben, wird am Wochenende nichts passieren. Zu viele Menschen sind hier, zu viele Kinder. Und Erdogan hält heute in Ankara und morgen in Istanbul Kundgebungen ab, zu denen seinen Anhänger in Stadtbussen gekarrt werden. An diesem Wochenende wird er die Bühne für sich wollen.
17.00 Uhr: Die Aktivisten haben beschlossen, weiterzumachen, jetzt müssen sie sich darüber verständigen, wie sie weiter machen. Inmitten des Trubels werden sieben über den Platz verstreute Treffen abgehalten. 200, 300 Leute sind es pro Plenum. Eine junge Frau, die eine Weste mit den Insignien einer besonders militanten linksradikalen Organisation trägt, steht am Rand eins Plenums. Ob ihre Leute sich nicht an den Debatten beteiligen? „Doch, natürlich, alle Organisationen und Individuen sind Teil dieser Bewegung.“ Und wenn eine Mehrheit der Leute beschließt, keine Steine auf Polizisten zu werfen? „Dann wären wir nicht daran gebunden. Wenn wir angegriffen werden, kämpfen wir mit allem, was wir kriegen können. Denn die kennen kein Pardon. Wir auch nicht.“
17.25 Uhr: Sogar die Katzen zurück im Park. Das muss doch der letzte Beweis sein, dass heute nichts zu befürchten ist.
17.50 Uhr: Ein paar junge Leute um die 20, allesamt Studentinnen und Studenten, alle aus anatolischen Provinzen stammend, scherzen, dass sie die Forderung nach dem Rücktritt des Gouverneurs nicht teilen. Der ist ein genauso begeisterter Twitter-User wie sie selbst (sie haben nichts gegen das Etikett „Twitter-Jugend“) und lässt sich nicht davon abschrecken, dass er sich mit jedem Tweet dem öffentlichen Spott hunderter junger Leute aussetzt. „Von Herzen gehört der zu uns“, sagen sie.
18.40 Uhr: Die ersten Nachrichten über Erdogan Rede machen die Runde: „Wenn Taksim nicht bis morgen geräumt ist, werden unsere Sicherheitskräfte zu räumen wissen.“ Wieder ein Ultimatum. Ein weiterer Einschüchterungsversuch oder meint er es ernst? Er könnte sich natürlich vor seinen Anhängern in Istanbul feiern lassen wollen. Was für ein Imperatorengehabe wäre das, welch Ausdruck eines niederträchtigen Charakters. Aber möglich. Schon gibt es den Aufruf zu einer Gegenkundgebung: „Morgen eine Million Menschen zum Taksimplatz.“
Drei Autoren der taz sind derzeit in Istanbul und verfolgen die Proteste. Deniz Yücel (@Besser_Deniz) und Frauke Böger (@frau_boe) twittern regelmäßig von den Geschehnissen.
19.00 Uhr: Meldungen vom Taksimplatz: Die Polizei soll sich formieren. Die Menschen im Park ziehen ihre Atemschutzmasken auf. Manche haben echte Gasmasken unterschiedlicher Qualität, die meisten aber nur Staubmasken, im besten Fall darin ein mit Essig befeuchtetes Tuch. Dazu: Schwimmbrillen, Helme, einige auch Handschuhe, um eine Gasgranate zurückzuwerfen oder sonst wie unschädlich zu machen.
19.30 Uhr: Menschen, darunter viele mit Kindern, strömen aus dem Park und bringen sich in Sicherheit, andere strömen von allen Seiten rein. Wie viele das sind, ist unklar. Aber es ist sehr voll und es ist sehr eng.
Explosionen, Lärmgranaten, Gasgeruch
19.50 Uhr: Explosionen an der Nordseite des Parks. Lärmgranaten. Gasgeruch. Es geht los.Ske stürmen tatsächlich.
20.00 Uhr: Die Polizei muss schnell in den Park gekommen sein. Aus der Mitte des Parks ist weder etwas von Steinwürfen zu sehen noch von Knüppeleinsätzen. E ist aber ohnehin nicht viel zu sehen, dafür liegen zu dichte Gasschwaden in der Luft. Die Polizei schießt aus nächster Nähe Gasgranaten in die Menge. Die Menschen bewegen sich langsam und der Polizei den Rücken zugekehrt aus dem Park heraus.
20.20 Uhr: Ab und zu erfasst zwar Hektik die Menge, es wird geschoben und geschubst, aber sofort finden sich etliche Leute, die beruhigend einwirken.
20.35 Uhr: Zehntausende strömen von der Nordseite aus dem Park in Richtung Cumhuriyet-Straße. Einige Male drängeln sich Leute aus den vorderen Reihen, die jetzt die hinteren sind, durch, die Verletzte stützen. Für die erste Behandlung der Gaseinwirkungen ist schnell jemand mit Milch oder Talcid-Lösungen zur Stelle.
Am Samstag luden taz und das Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin zur Podiumsdiskussion „Vom Taksim bis nach Iskenderun - Vereint im Protest, gespalten in der Politik“. Türkische Wissenschaftler erörterten die verschiedenen Beweggründe für die Proteste und deren Verlauf.
21.05 Uhr: Çarşı, die Ultras des Fußballklubs Beşiktaş hatten ihre Zelte am Nordausgang aufgeschlagen. Sie bleiben stehen. Anderes schließen sich ihnen an. Die Çarşı-Leute, bekannt für ihre Standfestigkeit gegenüber der Polizei und ihren Humor, singen: „Pfeffergas olé, Pfeffergas olé!“
21.15 Uhr: Jetzt bildet Çarşı die erste Reihe. Die Polizei hält noch einmal voll drauf. Wo eben noch die Çarşı-Leute standen, ist nur eine weiße Wolke. Ohne professionelle Ausrüstung hält das niemand lange aus.
21.20 Uhr: Die letzten hundert Leute verlassen den Gezi-Park. An dessen Nordende hatten Menschen Blumen gepflanzt. Noch im Gasnebel − und das klingt so kitschig, dass man es kaum aufschreiben mag − achten die meisten darauf, nicht die Blumenbeete zu zertrampeln. Auch über die Zelte ist niemand gelaufen. Die Menschen haben den Park so verlassen, dass sie jederzeit zurückkehren könnten. Nur etwas aufräumen, weitermachen.
Gezi-Park ist verloren
21.30 Uhr: Der Gezi-Park ist verloren. Damit ist die Infrastruktur weg. Alle Reseverven an Milch, Talcid und Wasser. Die Kanister, um Granaten zu ertränken. Die medizinische Versorgung. Alles.
21.35 Uhr, Cumhuriyet-Straße: Einige Zehntausend stehen auf der Straße, einige hundert vor den Luxushotels Divan und Hilton.
21.45 Uhr: Die Polizei hat sich an der Kreuzung formiert und schießt wieder mit Gas. Und mit Lärmgranaten. Es klingt nach Krieg.
21.50 Uhr: Feuerwerkskörper fliegen in Richtung der Polizei. Das macht auch Krach, sieht aber hübsch aus. Etwas Luft. Einige hundert Leute versuchen, eine Fahrbahnbegrenzung herauszureißen. Dann wieder Gas.
22.00 Uhr, Şişli: Gas. Zügig, aber nicht panisch laufen, stehen bleiben, Parolen rufen. Die Menge von immer noch einigen tausend Leuten erreicht den Nachbarbezirk Şişli. Neben Beşiktaş und Kadıköy der einzige nicht von der AKP regierte Bezirk Istanbuls. Der Bürgermeister von Şişli gehört zur kemalistischen CHP und hat die Protestierenden mit Dixieklos und seiner Müllabfuhr unterstützt.
22.10 Uhr: Wieder kommt ein Müllwagen zur Hilfe. Der Fahrer parkt sein Fahrzeug quer über die Straße und steigt aus. Jubel. Jemand ruft: „Das Fahrzeug nicht beschädigen!“
22.15 Uhr: Auch zwei Busfahrer blockieren mit ihren Fahrzeugen die Straße. Das hält die nachrückende Polizei nicht auf, verschafft aber ein bisschen Luft zum Atmen. Die Menge wird kleiner.
22.30 Uhr: Es geht weiter aus Şişli raus: Fulya, Mecidiyeköy. Fünf Kilometer vom Gezi-Park entfernt. Plötzlich gibt es keine Menge mehr. Zeit, die Hauptstraße zu verlassen.
22.55 Uhr, Mecidiyeköy: Zuflucht in einem Imbiss. Nachdem die Polizei weitergerückt und die Gasschwaden verzogen sind, Tee mit den Jungs vom Imbiss auf der Straße. Sie scheinen nicht Partei zu ergreifen, sondern sich nur darüber zu freuen, dass in ihrer kleinen Straße mal was los ist. Der Gebetsruf ertönt. Rund um den Taksimplatz gibt es keine Muezzin-Rufe. Willkommen in der anderen Türkei.
23.00 Uhr: Pause tut gut. Ein Ort zum Bleiben ist das nicht. SMS an Freunde: „Ich bin okay, du auch? Wo bist du, kann ich zu dir kommen?“
23.05 Uhr: Eine Freundin meldet sich aus Beşiktaş: „Hier ist keine Polizei. Nimm ein Taxi und komm.“ Beşiktaş ist jetzt kein schlechter Ort. Am Wochenende, als die Auseinandersetzungen begannen, hat, angeführt von den Çarşı-Ultras, die strikt säkulare, größtenteils kemalistische Bevölkerung ihr Viertel verteidigt.
23.30 Uhr, Beşiktaş: Das ganze Viertel scheint auf der Straße zu sein. Viele in türkischen Fahnen, viele ältere Frauen mit Pfannen und Töpfen in der Hand, auf den sie seit über zwei Wochen jeden Abend um neun Uhr einschlagen. Die Leute stehen an beiden Hauptzufahrtstraßen und in den verwinkelten Gassen des Zentrums. Fahnen schwenkend, singend, Parolen skandierend. Çarşı hat sich nicht hierher durchschlagen können. Vielleicht wollten sie auch nicht.
Gasangriffe auf Hotels und Krankenhäuser
0.00 Uhr: Nachrichten über Twitter: Gas im Divan-Hotel, wo ein Lazarett eingerichtet war. Claudia Roth ist auch dort. Gasangriff auf das Deutsche Hospital in Beyoğlu, auf dessen Gelände Menschen geflüchtet waren, Angriff auf das Hilton, Barrikaden in Cihangir, der Einkaufsmeile Istiklal, dem Kleine-Leuteviertel Talimhane und anderswo. Auf der anatolischen Seite formieren sich zwei Züge, die über die Bosporusbrücke zu laufen versuchen, werden aber angehalten. Gaseinsatz auf der Brücke, die Lage soll schlimm sein. Aus dem alevitischen Arme-Leute-Viertel Gazi hat sich ein Zug in Bewegung gesetzt, dem sich die Polizei auf halber Strecke in Okmeydanı entgegengestellt hat. Dort sollen schwere Straßenschlachten toben. Über Twitter suchen Eltern ihre Kinder, die sie im Chaos verloren haben.
0.30 Uhr: Der türkische Nachrichtensender NTV meldet, dass sich die Polizei nur gegen „provozierende Demonstranten“ wehre. Der Gouverneur sprich von einer „sauberen Operation“. Die friedlichen Demonstranten hätten genug Zeit gehabt, den Park zu verlassen. Dort seien nur noch „Provokateure“. Wenige Stunden zuvor hatten ihn junge Leute noch zum Picknick im Gezi-Park eingeladen.
0.45 Uhr: Twitter-Bilder von der Cumhuriyet-Straße nur wenige hundert Meter vom Taksimplatz entfernt , die die Polizei am Abend noch geräumt hatte. Die Demonstranten sind zurück. Etwas weiter nördlich im Zentrum von Şişli sollen hunderttausend Menschen sein. Wahnsinn.
1.00 Uhr: Nachricht aus einem Hotel direkt am Gezi-Park: Müllmänner räumen die Zelte, Transparente und alles Übrige weg. Nur das im Park eingerichtete, aber menschenleere Lazarett bleibt eine Weile stehen.
1.10 Uhr: Die Gendarmerie unterstützt mit Wasserwerfern die Polizei. Dabei hatten viele Demonstranten insgeheim gehofft, die Armee würde zu ihren Gunsten eingreifen.
1.25 Uhr: Wenn die Polizei nicht nach Beşiktaş kommt, marschieren die Bewohner von Beşiktaş eben zu ihr. Ein Zug von 4.000 Leuten formiert sich und läuft Richtung Taksimplatz. Auch viele ältere Menschen sind dabei, etwa die Hälfte Frauen. Ein paar junge Männer und eine Frau übernehmen die Führung. Ansage: „Wir leisten Widerstand. Aber wir werden keine Steine werfen.“ Flaschen Mitteln, die die Wirkungs des Reizgases mildern, hat niemand dabei. Einem Angriff der Polizei wäre diese Gruppe schutzlos ausgesetzt. Sie läuft durch Nebenstraßen.
1.30 Uhr: „Schlaf nicht, Beşiktaş.“ Aber hier schläft ohnehin niemand.
1.50 Uhr: „Schlaf nicht, Nişantaşı.“ Auch hier schläft niemand.
2.00 Uhr, Nişantaşı: Teşvikiye-Straße, noble Einkaufsmeile im Viertel Nişantaşı. Die Menge ist angewachsen. Die Ausrüstung ist jetzt besser. Keine Steine, keine Barrikaden. Laufen, soweit man kommt.
Gas. Zurücklaufen. Kein Gas. Vorlaufen
2.15 Uhr: Gas. Zurücklaufen. Menschen helfen, die ungeschützt zu weit vorne waren.
2.25 Uhr: Kein Gas. Vorlaufen. Weiter vorne scheint eine Barrikade zu brennen.
2.40 Uhr: Gas. Zurücklaufen.
2.50 Uhr: Wenige hundert Meter weiter vorne ist der Sitz des Gouverneurs. Offiziell ist er für die Sicherheit zuständig.
3.05 Uhr: Dialog zwischen einem jungen Mann aus dem Viertel, und dem Kader einer ML-Gruppe: „Was machen wir hier eigentlich?“ − „Wir wollen nach Taksim. Das zu versuchen heißt Widerstand zu leisten.“ 10.000 Leute sind jetzt hier. Und das ist nur ein Punkt von vielen.
3.15 Uhr: Gas. Zurücklaufen.
3.25 Uhr: Eine Frau um die 50 ist schwer getroffen. Zwei Männer tragen sie weg. Jemand ruft: „Ins Polizeirevier!“ Polizisten öffnen die Tür und lassen die Frau rein. Bis dahin war nichts davon zu merken, dass die Menge vor einer Polizeistation auf und ab lief. Ein verrücktes Land.
3.40 Uhr: Kein Gas. Vorlaufen.
3.55 Uhr: Gas. Sehr viel Gas. Zurücklaufen. Weiter zurücklaufen.
4.10 Uhr: Die große Masse hat sich zerstreut oder scheint woanders hingelaufen zu ein. Erschöpfte Menschen an den Bordsteinen und Hauseingängen. Leichte Beute für einen Eingreiftrupp.
4.20 Uhr: Ein Abgeordneter der kemalistischen CHP diskutiert mit 20, 30 Leuten, die sich um ihn scharen. Er redet davon, dass Erdogan alle staatlichen Organe, Justiz, Militär unter seine Kontrolle gebracht hat. Und er spricht von einer „Volksfront“, die man bilden müsse. Dann ein Anruf: Er soll den immer noch im Divan-Hotel eingeschlossenen Menschen helfen. Der Abgeordnete trägt auch nur eine simple Staubmaske.
4.30 Uhr: Zeit zu gehen. Morgen wird nicht weniger hart. Und es ist noch nicht vorbei.
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