NGO hilft Demonstrierenden in Russland: Wider die staatliche Übermacht

Warwara Michailowa arbeitet für eine russische NGO, die gratis Rechtshilfe leistet. Seit ihrer Flucht hilft sie aus der Ferne.

Eine Person wir von Uniformierten abgeführt.

Kurz nach Kriegsbeginn: Einsatzkräfte nehmen Mitte März in Sankt Petersburg Demonstrierende fest Foto: Peter Kovalev/Itar-Tass/picture alliance

Am 24. Februar beginnt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und für die Menschenrechtlerin Warwara Michailowa damit der Ausnahmezustand. Die 30-Jährige arbeitet für die russische NGO „Apologia protesta“. Die Organisation besteht aus Juristen in ganz Russland, die in Fällen von Menschenrechtsverletzungen kostenlose Rechtshilfe leisten. Die NGO verteidigt in Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren, unterstützt bei Festnahmen und geht wenn nötig auch bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Warwara Michailowa betreut unter anderem die Hotline der NGO. Hier können sich Demonstrierende melden, die Unterstützung brauchen. „Es ist das Einzige, was mich davor bewahrt, verrückt zu werden“, sagt sie über ihre Arbeit. Warwara Michailowa verteidigt Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in einem Land, in dem bis zu 15 Jahre Haftstrafe darauf stehen, den Krieg gegen die Ukraine als solchen zu benennen. Es ist eine Arbeit, die sie selbst in Gefahr bringt.

Kurz nach Kriegsbeginn finden in vielen Städten Russlands Massenproteste statt. Hunderte Menschen rufen „Nein zum Krieg“ in Jekaterinburg. Tausend Menschen kommen zu einer spontanen Antikriegsdemo in St. Petersburg zusammen. Bereits nach wenigen Tagen gibt es tausende Festnahmen. Viele Menschen werden direkt auf der Straße verhaftet und für eine Nacht festgenommen. Teilweise seien es Menschen gewesen, die noch keine Erfahrung mit der Polizei hatten, sagt Warwara Michailowa. Wenn sie von der Polizeiwache telefonieren können, rufen sie bei der Hotline an. Am anderen Ende sitzt Michailowa.

Jurastudium aus politischen Gründen

Sie versucht herauszufinden, wann die Personen am nächsten Morgen vor Gericht erscheinen müssen, damit ein Anwalt sie finden kann. Die Polizei will genau das Gegenteil erreichen: Die Menschen möglichst schnell ohne juristischen Beistand verurteilen. „Sie schneiden die Kommunikationskanäle so weit wie möglich ab, sodass die Person keine Zeit hat, sich über ihre Rechte zu informieren, und vor Gericht so desorientiert wie möglich ist“, sagt Mikchailowa.

Die Polizei setze die Menschen außerdem extrem unter Druck, erzählt sie der taz. „Wenn es Eltern sind, drohen sie mit dem Jugendamt. Sie halten Minderjährige dort fest und drohen ihnen mit Problemen in der Schule. Wenn es sich um Angestellte von Unternehmen handelt, haben sie Probleme bei der Arbeit“, sagt sie. Es sei auch zu Gewalt gekommen, sowohl bei Kundgebungen als auch bei Festnahmen. In einem Fall sei ein Mädchen von der Brateevo-Polizei in Moskau gefoltert worden. „Es war schwer, irgendetwas zu fühlen“, sagt Michailowa über diese Zeit.

Sie hat aus politischen Gründen Jura studiert. Vor ihrer Arbeit als Menschenrechtlerin war sie selbst Aktivistin und wurde mehrfach auf Kundgebungen verhaftet. Sie weiß, dass ihr deshalb möglicherweise eine Haftstrafe droht. Sie erklärt: „Wenn man das erste Mal bei einer Kundgebung verhaftet wird, bekommt man 15 Tage Gefängnis, beim zweiten Mal bekommt man 30 Tage Gefängnis oder eine Geldstrafe von 300.000 Rubel. Wenn du aber das vierte Mal bei einer Kundgebung festgenommen wirst, wirst du wegen einer Straftat angeklagt.“

14 Stunden banges Warten an der Grenze

Außerdem schreibt sie in sozialen Medien offen über den Krieg. „Ich bin eine öffentliche Anwältin“, sagt sie. Auch ihr Partner, der russische Fotojournalist David Frenkel, hat Angst, dass er verhaftet wird. Frenkel arbeitet unter anderem zu Polizeigewalt und ist in den letzten Jahren immer wieder von schweren Repressionen betroffen gewesen. In einem Wahllokal wurde ihm im Sommer 2020 durch einen Polizeibeamten der Arm gebrochen. Immer wieder taucht die Polizei an der Wohnung von Frenkel und Michailowa auf. „Danach wurde unser Auto auf dem Hof vor unserem Haus zerstört“, sagt Varvara.

Fünf Tage nach Kriegsbeginn beschließen sie zu fliehen. Michailowa packt Dokumente und Akten ein, die sie in ihrer Wohnung aufbewahrt. Dann setzen ihr Partner und sie sich ins Auto und fahren los. Vierzig Stunden von St. Petersburg, das fast ganz im Nordwesten Russlands liegt, bis in den Süden zur georgischen Grenze, bei Wladikawkas. Sie wollen nach Tiflis, in die Hauptstadt von Georgien.

„Das ist der Moment, in dem du fährst und einfach nicht mehr weiterarbeiten kannst“, sagt sie. „Du fährst einfach und weinst. Das war ein sehr harter Moment.“ Es sind vierzig Stunden, in denen nicht klar ist, ob sie es schaffen. Vor allem ihr Ehemann hat Sorgen, dass man ihn nicht ausreisen lässt.

„In den ersten Tagen war überhaupt nicht klar, welche weiteren Maßnahmen Putin ankündigen würde“, sagt Warwara. „Und es gab einen sehr beängstigenden Moment, als wir dachten, dass wir den Punkt verpasst hätten, um zu gehen.“ An der Grenze müssen sie fast vierzehn Stunden warten. Am Ende wird ihnen mitgeteilt, dass David Frenkel nicht einreisen darf. Eine Begründung erhält er nicht. Mit ihm werden weitere russische Journalisten an der Grenze abgewiesen. Frenkel fliegt nach Israel. Warwara Michailowa reist allein nach Tiflis weiter.

Es sind harte Wochen für sie. „Ich habe mein Land, mein Zuhause und meine Familie verloren und bin von meinem Mann auf unbestimmte Zeit getrennt“, sagt sie der taz. Ihre russische Bankkarte funktioniert in Georgien nicht mehr. Sie lebt vom Bargeld in ausländischer Währung, das sie aus Russland mitgebracht hat.

Gewaltvolle Verhöre

Ihr Arbeitstag besteht nicht nur darin, die Hotline zu betreuen, sondern auch, juristische Dokumente für verhaftete Personen vorzubereiten. Denn nicht in allen russischen Städten habe die NGO ausreichend Anwälte und Anwältinnen. „Deshalb können wir nicht jedem, der verhaftet wird, einen Anwalt schicken“, sagt sie. Und das ist ein Problem. Jede Verhaftung bedeute großen Stress, vor allem, wenn die Person noch keine Erfahrung mit der Polizei habe. Die Verhöre seien oft grob, gewaltvoll und würden gegen elementarste Rechte verstoßen, sagt Michailowa. „Wir helfen dabei, damit umzugehen.“

Massenproteste sind durch die repressive Gesetzgebung mittlerweile fast gänzlich unterbunden worden

Doch wenige Wochen nach Kriegsbeginn verschlimmert sich die Lage für russische Demonstrierende noch einmal. Anfang März werden vom Kreml zwei Gesetze erlassen, die unabhängige Kriegsberichterstattung und Proteste gegen den Krieg mit Strafen von bis zu 15 Jahren Gefängnis kriminalisieren. Laut diesen Gesetzen ist es illegal, angebliche „Fake News“ über die russische Armee zu verbreiten, ein Ende des Militäreinsatzes zu fordern oder Sanktionen gegen Russland zu unterstützen.

Die Gesetze verändern die Proteste. Gibt es im ersten Kriegsmonat noch Massenproteste in vielen russischen Städten, sind diese durch repressive Gesetzgebung mittlerweile fast gänzlich unterbunden worden. Nur wenige trauen sich, sich dem zu widersetzen. Stattdessen gebe es immer mehr Solo-Proteste, sagt Warwara Michailowa. Ein prominentes Beispiel ist die St. Petersburger Künstlerin Sascha Skotschilenko, eine Freundin von Michailowa. Skotschilenko drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis, weil sie Ende März Preisschilder an Supermarktregalen mit Nachrichtentexten über Angriffe auf die ukrainischen Hafenstadt Mariupol ersetzt hatte.

„Apologia protesta“ gilt nun als „ausländischer Agent“

Ihr Fall zeige das große Missverhältnis zwischen Tat und staatlicher Reaktion darauf, sagt Warwara Michailowa. Doch er stehe auch für viele andere, denn: „Jeden Tag erhalten wir Meldungen von Menschen, die wegen Stickern verhaftet wurden“. Die russischen Behörden versuchten alles, um auch den geringsten Widerstand zu unterdrücken. Michailowa erzählt von einem Fall, in dem ein Mann in der russischen Stadt Smolensk als Solo-Demonstrant ein Schild hoch gehalten habe. Ein Mann im Rollstuhl habe sich neben ihn gestellt. „Diese beiden Menschen wurden von der Polizei dann als Massenprotest eingestuft. Es war der absurdeste Fall“, sagt die Menschenrechtlerin.

Mittlerweile ist Warwara Michailowa nach Israel zu ihrem Freund gereist. Ihre Organisation wurde Mitte Mai als „ausländischer Agent“ eingestuft. Seitdem sind sie verpflichtet, dem Justizministerium gegenüber ihre Bücher offenzulegen und einen Disclaimer auf ihrer Webseite zu führen. Dort steht nun ganz oben: „Diese Inhalte werden von einem ausländischen Massenmedium, das die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt und/oder einer russischen juristischen Person, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt, erstellt und/oder verbreitet“. Verstößt die Organisation gegen einen Teil dieses Gesetzes, kann sie geschlossen werden.

Auch wenn man in einem faschistischen Staat lebe, sagt Warwara Michailowa, verliere man nie das innere Gefühl davon, was richtig sei. Doch sei völlig unklar, was die Zukunft bringe. Auch wenn sie aus der Ferne weiter arbeite, habe sie Sorge, dass ihre Arbeit und die aller Men­schen­recht­le­r*in­nen in Russland „irgendwie plattgemacht“ wird. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unsere Arbeit in naher Zukunft gänzlich verboten sein wird.“

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