Grüne Asylpolitik auf Kompromisskurs: Die Stille nach dem Beschluss
Die Grünen haben den jüngsten Asylkompromiss geräuschlos durchgewinkt. Das ist ein Sieg für Realos wie Winfried Kretschmann.
BERLIN taz | Die Gewinner jubeln lieber erst gar nicht vor Publikum. Bloß keine Wunden aufreißen bei diesem sensiblen Thema, das die Grünen im September in den Ausnahmezustand versetzt hatte. Vor einer Woche verhalfen grüne Ländervertreter einem weiteren umstrittenen Asylpaket aus dem Kanzleramt im Bundesrat zu den entscheidenden Stimmen. Doch das Echo unterscheidet sich eindrucksvoll von jenem nach dem ersten Asylkompromiss im September. Nicht einmal eine Brise der Entrüstung wehte diesmal noch durch die Partei.
Dabei rangen die grün mitregierten Länder erneut heftig um ihre Haltung. Wie schon beim ersten Asylkompromiss stand am Ende kein einheitliches Votum. Die meisten grün mitregierten Länder winkten zwar sowohl die Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes als auch die unter Grünen hochstrittige Verschärfung des EU-Freizügigkeitsgesetzes durch – um im Gegenzug zusätzliche Millionen und eine bessere Gesundheitsversorgung für Asylbewerber herauszuschlagen. Das rot-grün regierte Bremen jedoch wertete die Einschnitte in die Freizügigkeit samt Wiedereinreisesperren für Unionsbürger als untragbar – und enthielt sich.
Eigentlich genügend inhaltliche Differenzen, um sich wie im September öffentlich über den richtigen Kurs in der Asylpolitik zu zerlegen. Doch selbst scharfe Kritiker des Realokurses scheinen diesmal nicht mehr geneigt, die grünen Länderfürsten öffentlich als rückgratlos anzuprangern. Auch Matthias Güldner, Grünen-Fraktionschef in der bremischen Bürgerschaft, äußert sich wohlwollend über die Parteifreunde.
Zwar sei es Bremen „relativ schwach“ vorgekommen, die Kritik an dem Freizügigkeitsgesetz nur in einer Protokollerklärung anzubringen, sagt er. Schließlich sei doch der Bundesratsbeschluss entscheidend. Aber, versichert Güldner: „Man konnte beim EU-Freizügigkeitsgesetz zu unterschiedlichen Abwägungen kommen.“ Daher gebe es von seiner Seite „keinen Groll“.
„Ein kleiner Schritt nach Vorne"
Selbst die flüchtlingspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Luise Amtsberg, verzichtet auf harsche Worte – obwohl ihre Fraktion noch im Sommer gewarnt hatte, die Regierung wolle „die europäische Idee endgültig in die Tonne“ treten. Nun sagt die Abgeordnete: Der Kompromiss sei „sicherlich nicht optimal und nicht die reine grüne Lehre“, aber immerhin „ein kleiner Schritt nach vorne“.
So ähnlich hatte Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim Grünen-Parteitag in Hamburg sein heftig kritisiertes Votum für die Einstufung dreier Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer gerechtfertigt: „Nur wer Kompromisse macht, kann auch von anderen welche erwarten.“
Bei den Grünen zeichnet sich ein neuer Umgang mit dem Bund-Länder-Machtgefüge ab. Man will jetzt das Positive herausstellen; statt der eigenen Parteifreunde lieber die Große Koalition attackieren. So räumt auch Amtsberg ein: Sie hätte sich härtere Verhandlungen mit dem Bund gewünscht, aber: „Bei dieser Bundesregierung bleibt im Moment leider nur die Möglichkeit, über die grünen Ländervertreter an den wenigen Stellschrauben zu drehen.“
Hat sich Kretschmann mit seiner Rede beim Parteitag durchgesetzt? So sehen das einige Realos, auch wenn sie sich damit nicht zitieren lassen. Dieter Janecek, Realokoordinator im Bundestag, findet die neue Ernsthaftigkeit bei der Bewertung von Kompromissen im Bundesrat „wirklich gut“.
Das sieht die Sprecherin der Grünen Jugend, Theresa Kalmer, anders. Der Parteinachwuchs prangerte vergangene Woche den „perfiden“ Kompromiss an – und blieb damit allein. Dabei sei doch selbst die versprochene Gesundheitskarte für Asylbewerber nur als „Prüfauftrag“ in dem Bund-Länder-Beschluss festgehalten, kritisiert Kalmer: „Das finde ich schwach.“ Warum sage das niemand mehr? Kalmer wünscht sich „Diskussionen über rote Linien, die definitiv nicht zur Verhandlung stehen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau