Extremismusexperte über Nazi-Aussteiger: „Raus allein reicht nicht“
Zwei Angeklagte im NSU-Prozess haben die rechte Szene verlassen. Wirklich? Nur ein glatter Bruch hilft, sagt der Leiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt.
taz: Herr Koch, im jetzigen NSU-Verfahren hat Holger G. betont, seit 2004 ausgestiegen zu sein. Nur aus alter Freundschaft hätte er bis 2011 Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe geholfen. Ist der Beschuldigte für Sie ein Aussteiger?
Reinhard Koch: Diese Selbstdefinition von Holger G. ist selbstentlarvend. Ein Ausstieg aus der Szene bedingt den totalen Cut mit diesem Freundeskreis. Diesen Schnitt hat er bei den dreien aus Jena nicht gemacht. Dem moralischen Druckmittel, „aus alter Freundschaft zu helfen“, konnte er sich so auch nicht entziehen, half und verschwieg, was er über Jahre nach dem vermeintlichen „Ausstieg“ machte.
Gerade in einer sich selbst als Elite verstehenden klandestinen Szene, in der vermeintlich Treue und Kameradschaft zentrale Werte sind, wirkt dieser Druck besonders. Nur ein Bruch, bei dem die alten Freundschaften aufgegeben werden, befreit wirklich. Alles andere ist ein Selbstbetrug.
Ein Ausstieg, der kein Ausstieg war?
In den elf Jahren, in denen wir in unterschiedlichen Projekten Aussteiger betreuten, führten wir immer wieder Auseinandersetzungen mit ihnen, wie weit der Prozess der Trennung gehen muss – und ohne die völlige Loslösung geht es nicht. Hier entscheidet sich sofort, wie ernst jemand den Ausstieg vollziehen will. Denn manchen Aussteigern geht es lediglich um ihr Außenbild, dass sich Eltern und Geschwister nicht mehr sorgen, es bei der Ausbildung keine Probleme gibt oder im Internet Einträge zu ihren Aktivitäten gelöscht werden. Eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, gelebten Verhaltensweisen und vertretenen Ansichten ist aber unabdingbar.
Das bisherige Leben steht auf dem Prüfstand?
Ja, in dem Prozess muss sich der Ausstiegswillige fragen, was für Motive bewegten mich, sich dieser Szene anzuschließen? Kameradschaft allein genügt als Antwort nicht. Sie blendet aus, dass einen die Weltanschauung – das Abwerten von Menschen – vermeintlich selbst aufwertet und das Verhalten – Angriffe auf die „Feinde“ – stark erscheinen ließ.
Erst wenn auch diese Motive, die einen in die Szene gezogen haben und darin hielten, mit benannt werden, kann eine tiefer gehende Aufarbeitung beginnen. Wir erwarten am Ende dieses Prozesses, der unterschiedlich lang verlaufen kann, dass der ehemalige Rechtsextreme seine früheren politisch motivierten Verhaltensweisen als kontraproduktiv für die eigene Entwicklung erkennt. Ablösung und Aufarbeitung muss dann in die Ausbildung sozialer Kompetenzen übergehen – das ist unser Standard.
Ihr Standard? Besteht bei den verschiedenen Ausstiegshilfen keine einheitliche Vorstellung?
Bei einzelnen Ausstiegsprogrammen genügt es, wenn der „Aussteiger“ mit den politischen Aktivitäten aufhört oder nicht mehr straffällig wird. Wir würden in diesen Fällen eher von Aufhörer, Stillhalter oder Abtaucher sprechen. Denn sie selbst haben ihre Vita nicht aufgearbeitet und die Betreuung hat nicht einen Wandel der Verhaltensweisen und menschenfeindlichen Einstellungen gefordert.
Kommen Männer und Frauen auch zu Ihnen, um Ausstiegsbemühungen vorzuzeigen?
Als Alibi? Ja, solche Versuche hatten wir, vor allem von Männern. Frauen steigen aber auch prozentual weniger aus. Ein Rechtsextremer aus Norddeutschland wollte mit uns sein Außenbild ändern, nicht aber seine Einstellungen mit uns aufarbeiten. Da kamen wir nicht zusammen.
Muss ein Aussteiger seine gesamten Aktivitäten und Kontakte offenbaren?
Diese Sorge treibt Aussteiger um. Sie wollen aussteigen, aber keine Verräter werden. Bei einem Kontakt zu staatlichen Aussteigerprogrammen bei der Polizei oder des Verfassungsschutzes wird dies oft vermutet und deshalb nicht gern gesucht. Auch weil man von Straftaten weiß, die sie eventuell selbst begangen hat. In der Szene hat man schnell die „Karriere“ vom Mitläufer zum Mitwisser und zum Mittäter durchlaufen und könnte vieles später aussagen. Aber auch Kontakte zu Antifagruppen werden da oft vermieden, um nicht über Strukturen erzählen zu müssen.
Carsten S. vollzog 2000 eine klare Trennung, redete auch über seine Vergangenheit und verschwieg doch, dass er dem Trio eine Waffe übergab …
… aus seiner damaligen Situation nachvollziehbar. Das Verhalten ist aber ein eindeutiges Indiz, dass er sich mit seiner Rolle nie wirklich auseinandergesetzt hat, er scheint seine rechtsextreme Vergangenheit in sich abgekapselt zu haben. Im Verfahren fiel ihm auch schwer, sich über seine politische Einstellung und politische Rolle deutlich zu äußern. Die zögerlichen Aussagen grenzten an Verharmlosungen. Ein weiteres Indiz für die Nichtaufarbeitung.
Nebenkläger sprachen nach den ersten Aussagen von Carsten S., dass er die Szene als „Pfadfinderverein“ mit „schicken Klamotten und krasser Musik“ darstelle. Erst bei weiteren Aussagen wurde er deutlicher. Hätten Sie bei einer Betreuung wegen Straftaten Waffen nachgefragt?
Über die Motivation dieses Aussageverhaltens kann bisher nur spekuliert werden. Selbstschutz? Verdrängung? Das Verhalten bestätigt allerdings, dass allein eine professionelle Begleitung ein wirklicher Neuanfang beim Denken und Verhalten ohne rechte Konnotationen erst ermöglicht. Zu unserer Begleitung gehört denn auch, wenn ein Vertrauensverhältnis gefunden wurde, nach Waffenbesitz, Schulungen an Waffen und Trainingslagern zu fragen. Gerade auch, weil die Szene extrem militant ist und Waffen immer eine Rolle spielen.
In einem Gespräch sagte eine Aussteigerin zu mir: „Scheiße, das ist ja mein halbes Leben gewesen.“
Ein starkes Eingeständnis. Ein richtiger Ausstieg eröffnet zugleich immer auch eine neue Lebensperspektive.
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