Essay Autofrei Leben: Mehr Hiddensee

Wer auf einen Wagen verzichtet, muss den Verkehr genauso ertragen wie Autofahrer. Warum eigentlich schaffen wir keine autofreien Gebiete?

Ein Kind spielt mit dem Ball auf einer Insel. Die Autos versinken im Meer.

Ohne Autos ist es viel ruhiger. Und auch die Luft ist besser Illustration: Katja Gendikova

Ist die Fähre erst einmal abgefahren, wird es plötzlich sehr still. Nur das Brausen und Gurgeln der Ostsee ist zu hören. Viele greifen nach einem der Handwagen, die zu Dutzenden am Hafen stehen, um Gepäck aufzuladen. Auch zwei Kutschen stehen für jene bereit, deren Quartiere etwas weiter entfernt sind. Ich selbst benutze mein Fahrrad für den Transport. Die Ankunft in Vitte auf der Insel Hiddensee hat etwas Irritierendes, denn Orte ohne Autos existieren in unserer rücksichtslos motorisierten Welt kaum noch.

Selbst dort, wo gerade keine fahren – etwa in einer Fußgängerzone oder in einem Park – hört man dennoch im Hintergrund die mehr oder weniger lauten Motorengeräusche irgendeiner Straße oder Autobahn. Es ist dieses ständige Rauschen unserer Zeit, das viele bewusst gar nicht mehr wahrnehmen, das aber dennoch enorm belastet. Wie beim Tinnitus gibt es kein Entrinnen.

Wer auf einen eigenen Wagen verzichtet, hat dadurch kaum Vorteile. Der Lärm, die Gefahren des Autoverkehrs und den enormen Platzverbrauch müssen die Unmotorisierten genauso ertragen wie passionierte Autofahrer. Doch warum eigentlich? Hiddensee zeigt, dass ein Leben ohne Privatfahrzeuge auf einem begrenzten Territorium ohne Weiteres machbar ist. Die Autos auf der Insel, meist emissionsarme E-Wagen, lassen sich an zwei Händen abzählen: der Inselbus, das Polizeiauto, Feuerwehr, Müllwagen und noch das ein oder andere handwerkliche oder landwirtschaftliche Nutzfahrzeug. Alle anderen – auch die Hotelbetreiber*innen, Gastronom*innen und Ladenbesitzer*innen – bewegen sich per Rad, zu Fuß oder per Schiff.

Eine Mitarbeiterin in der Touristeninformation erzählt, dass sie eine Sondergenehmigung für den Möbeltransporter brauchte, als sie auf die Insel umzog (der Ruhe wegen). Selbst der Bestatter, der vom benachbarten Rügen übersetzt, braucht für seinen Wagen eine Erlaubnis, wenn er einen Verstorbenen abholt. Ganz mühelos ist das autofreie Leben also sicher nicht, und es wäre falsch, diesen Eindruck erwecken zu wollen. Gerade bei Wind, Regen und Kälte scheint es für Familien so viel einfacher, die Kinder schnell ins Auto zu packen, um zur Kita, zur Schule oder zum Supermarkt zu gelangen.

Doch zu welchem Preis? Und warum sollen alle ihn zahlen, auch diejenigen, die zum Verzicht bereit sind? Besonders für Kinder werden die öffentlichen Räume immer kleiner. Der starke Verkehr hat das Draußen zur feindlichen Außenwelt werden lassen. Fast 30.000 Kinder verunglücken pro Jahr, 60 davon tödlich (2017).

Die Gefahren der Straße

Über die Hälfte dieser Kinder waren dabei auf dem Rad oder zu Fuß unterwegs. Außer im eigenen Garten ist das Spielen außerhalb der eigenen vier Wände oder auf einem eingezäunten Spielplatz immer ein Risiko. Das gilt für das Leben auf dem Land genauso wie in der Stadt. Auf einer Landstraße zur Schule zu fahren, dürfte mindestens so gefährlich sein wie das Überqueren von Kreuzungen in der Stadt.

Für die Freiheit der Autofahrenden schränken alle anderen ihre Freiheit ein, seltsamerweise ohne großen Protest. Nicht bei offenem Fenster schlafen zu können – es sei denn, man gehört zu den Glücklichen mit einem Schlafzimmer zum ruhigen Hinterhof – ist zur traurigen Normalität geworden. Schicksalsergeben nehmen wir hin, dass zur Straße gelegene Balkone nicht genutzt werden können, weil der Lärmpegel anfahrender Lkws an einer Ampel oder der allgegenwärtigen Lieferwagen das Wohlbefinden stören oder man schlicht sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Verkehr ist die größte Lärmquelle, er vermindert die Leistungsfähigkeit und verursacht auf Dauer Herz- und Kreislauferkrankungen. Die Zukunft möchte man sich so eigentlich nicht vorstellen.

Inwiefern ist das Konzept einer autofreien Insel übertragbar, und auf welche Weise könnte es überall ein bisschen mehr Hiddensee geben? Natürlich existieren in Deutschland längst Projekte für autofreies Wohnen. In München-Riem beispielsweise oder die Siedlung Saarlandstraße in Hamburg-Winterhude. Fast in jeder größeren Stadt finden sich ein oder zwei Modelle. Doch angesichts dessen, dass in den urbanen Zentren nur noch jeder zweite Haushalt ein Auto besitzt, sind die Angebote lächerlich gering. In anderen europäi­schen Metropolen wird längst in größerem Stil mit autofreien Zonen und Zeiten experimentiert. Doch in Deutschland wird das autofreie und damit ebenso flächensparende wie gesundheits­fördernde und klimafreundliche Bauen bisher kaum verwirklicht.

Wenn ich an Beispiele für mehr Hiddensee auf dem Festland denke, kommt mir deshalb eher ­Israel als Deutschland in den Sinn. Bevor ich Nahostkorrespondentin wurde, habe ich immer davon geträumt, in einem Kibbuz zu leben. Allerdings nicht der sozialistischen Ideale oder der Begeisterung für Landwirtschaft wegen. Mich hat fasziniert, dass der kleine Sohn meiner Freundin in einem Kibbuz zwischen Jerusalem und Tel Aviv allein zum Kinderhaus stapfen, seine Freunde besuchen und zum Spielplatz gehen konnte. Mit drei Jahren!

Der fragliche Kibbuz ist, wie die meisten der insgesamt 270, wie ein Park angelegt. Viele kleine Häuschen stehen darüber verstreut, sind aber nicht eingezäunt. In der Mitte liegen die Kinderhäuser oder Kitas, der kleine Lebensmittelladen und das Gemeinschaftshaus, Spiel- und Sportplätze. Eine schmale Straße führt eiförmig um den Kibbuz herum zu zwei kleinen Parkplätzen. Von dort geht man zu Fuß weiter. Durch den übrigen Kibbuz führen nur Fußwege. Auf dieser gesamten Fläche sind Kinder, Katzen, Hunde und sonstige Kreaturen weitestgehend sicher.

Autofrei wohnen

Autofrei zu wohnen war für die Kibbuznikim ursprünglich keine bewusste verkehrs- oder umweltpolitische Entscheidung; es hatte sich einfach so ergeben, denn bis zu den Privatisierungen hatte die überwältigende Mehrheit der Mitglieder gar keinen eigenen Wagen. Das Kollektiv besaß ein oder zwei Fahrzeuge, die man ausleihen konnte.

Wohlig stellte ich mir vor, dass auch meine frisch geborene Tochter bald einmal über die Wiese laufen würde, sicher und geborgen in einem ländlichen, aber nicht spießigen oder gar konservativen Idyll. Leider erfüllte sich dieser Traum nie, denn alle Kibbuzim, auch dieser, begannen aus finanzieller Not, hektisch zu privatisieren. Es wurde nicht mehr vermietet. Nur noch Neumitglieder mit den finanziellen Möglichkeiten, ein Haus zu bauen oder zu kaufen, wurden aufgenommen. Das Interesse war groß, denn eine Lebensqualität wie im Kibbuz ist auch in Israel anderswo nicht leicht zu finden.

Notgedrungen zogen wir in eine benachbarte Ortschaft, ein reguläres Dorf. Diese Entscheidung stellte sich als schwerwiegender Fehler heraus. Gefühlt fuhren die Autos auf der Dorfstraße durch unser Schlafzimmer. In dem Moment, in dem der Nachbar morgens sein Auto anließ, um zur Arbeit zu fahren, war ich hellwach. Wenn im Morgengrauen der Müllwagen kam und die Fensterscheiben vi­brierten, weinte mein Baby vor Schreck. Ob ein Mittagsschläfchen möglich war, hing gänzlich vom Verkehrsaufkommen auf der Dorfstraße ab, an der auch gern mal ein Schwarm Motorräder entlangwummerte.

Wir flohen schon nach wenigen Monaten in die Stadt, ans Ende einer ruhigen Sackgasse, wo wir morgens tatsächlich Vögel statt Autos hören konnten und uns keine Abgase durch die offenen Fenster strömten. Aber die Sehnsucht nach dem Kibbuz, dieser autofreien Insel, auf der alle Hektik von einem abfällt, ist geblieben.

Radikaler denken

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ein Versuch, Kibbuzim in Deutschland einzuführen, dürfte bedauerlicherweise wenig aussichtsreich sein. Bleiben also nur die wenigen autofreien Wohnprojekte. Schön für den Einzelnen, wenn er dort eine Bleibe ergattert. Doch durch Neubaugebiete allein lässt sich zu wenig erreichen. Sie bringen autofreies Wohnen nur minimal voran, denn in den städtischen, gut angebundenen Gebieten, in denen die meisten Unmotorisierten leben, gibt es kaum noch Freiflächen. Mehr Hiddensee kann so nicht entstehen. Wir müssen radikaler denken, viel radikaler.

So radikal beispielsweise wie die Religiösen in Israel, die Charedim. Am Freitagabend, wenn der Sabbat beginnt, schließen sie die Straßen, in denen sie die Mehrheit stellen. Sie lassen eine Schranke herunter. Bis Samstagabend gehört die Fahrbahn den Familien, die dort flanieren, den Kindern, die Ball spielen, Rad fahren und Unfug treiben. Die Gründe für die Sperren sind nicht verkehrspolitisch. Doch warum nicht auch in Berlin, Hamburg oder Frankfurt Straßen für den Verkehr schließen, wenn die Mehrheit dort kein Auto besitzt und entsprechend abstimmt? Es klingt vielleicht utopisch, aber auch das Frauenwahlrecht und rauchfreie Cafés waren einmal eine Utopie.

Fünf Meter mehr Platz entstünden in einer normalen Straße allein dadurch, dass rechts und links Parkplätze wegfielen – man stelle sich vor, wie es vor der eigenen Haustür aussähe, wenn dort, wo jetzt Autos Platz wegnehmen, Grünzeug angepflanzt und Bänke aufgestellt wären. Wenn man zur Straße hin nachts das Fenster offen lassen und dabei sogar schlafen könnte. Wenn Kinder wieder bis zum Abend auf der Straße spielten und Katzen dort nachts Mäuse jagten.

Ich wäre sogar bereit, etwas weiter als bisher zur Straßenbahn zu laufen, die Internetbestellungen von einer Paketstation abzuholen und mir einen Bollerwagen für die Getränkekästen anzuschaffen. Denn mehr Hiddensee mitten in der Stadt – das kann Zukunft sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.