Debatte Bedrohung und Terror: Krieg der Angstmacher
Nicht Orte der Macht fielen dem Terror in Paris zum Opfer, sondern Orte des Spiels. Die Attacken bedrohen die Vielfalt der Lebensformen.
![Einschusslöcher an Fensterscheibe Einschusslöcher an Fensterscheibe](https://taz.de/picture/807587/14/einschussloecher_18.11.2015_dpa.jpg)
S chon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres wurde Paris Schauplatz eines mörderischen Terroranschlags. Doch wem oder was galt hier überhaupt der Angriff? Die Vergleiche mit dem 11. September hinken: es ist gerade keine symbolträchtige Machtzentrale, die hier ins Fadenkreuz genommen wurde, weder World Trade Center noch Pentagon.
In Paris wurde am Freitagabend nicht der Präsidentenpalast als Anschlagsziel auserkoren, und genauso wenig das Finanzzentrum La Défense, der Eiffelturm oder strategische Verkehrsknotenpunkte. Im Visier war der Pariser Osten, dieser besonders offene, lebensfreudige und durchmischte Teil der Stadt, in dem experimentelle und riskantere Lebensformen ihren Platz hatten und in dem Hautfarbe, Herkunft oder Bildungsstand zur Nebensache wurden.
Warum gerade dieses Paris angegriffen wurde, dafür ließen sich zwei Erklärungen angeben, und die erste, pragmatische, hört man gegenwärtig oft: An allen strategisch gefährdeten Orten herrschten spätestens seit den Januar-Anschlägen Sicherheitsvorkehrungen, die terroristische Aktionen grundsätzlich erschwert hätten. Übrig blieben all jene Teile der Republik, die auch durch erhöhte Sicherheitsmaßnahmen niemals zu schützen sein werden; es ist das berühmte Restrisiko an den Rändern.
Doch was wäre, wenn der Angriff auf den Pariser Osten keine Verlegenheitslösung darstellte, sondern die Attentäter hiermit auf das Herz dessen zielten, was Demokratie ausmacht und was fanatische Ideologien wie diejenige des IS noch nachhaltiger bedroht als Kampfjets und Bomben?
Tatsächlich gibt es im Osten noch ein wenig mehr von dieser sozialen Durchlässigkeit, die in der französischen Kapitale wie auch in allen anderen europäischen Großstädten zunehmend bedroht ist, hier mischten sich an Wochenenden in den unzähligen Bars Studenten, Lebenskünstlerinnen und digitale Bohemiens mit ausgehhungrigen Jugendlichen aus der nahen Banlieue. Vielleicht saßen einige der Attentäter vor ein paar Jahren noch selbst auf einigen dieser Terrassen, vielleicht waren sie selbst bei Live-Gigs im Konzertsaal Bataclan gewesen, in denen man am Eingang bekanntermaßen nicht nach Aussehen oder Kleidung aussiebte. Attentäter und Opfer – das ist hier das Verstörende – gehörten ein und derselben Generation an.
Gegenwartsverdrossenheit
Nicht dass im Pariser Osten die Welt noch heil gewesen wäre: Jugendarbeitslosigkeit, steigende Mieten und allgemeine Prekarisierung hinterlassen unverkennbare Spuren und würden gut in das Bild einer Gesellschaft passen, die gern zur Selbstgeißelung neigt. Genau davon ist jedoch an Feierabenden wie an jenem Freitag wenig zu spüren, so als gelte es, jener zum guten Ton gehörenden Gegenwartsverdrossenheit zu trotzen und für ein paar Stunden schlicht das zwanglose Zusammensein zu zelebrieren.
Genau dieses Frankreich war es, das ins Fadenkreuz der Dschihadisten geriet. Nicht Orte der Macht fielen dem Terror zum Opfer, sondern Orte des Spiels: Orte, an denen Musik gespielt wurde, Restaurants wie das Petit Cambodge, die mit kulinarischem Cross-over experimentierten, Bühnen, auf denen mit Identitäten und Masken gespielt wurde (am Samstagabend wäre im Bataclan wieder eine Queer-Party ausgetragen worden).
An solchen Orten finden Begegnungen statt, man reibt sich, kommt sich näher oder löst sich auch wieder voneinander, nicht immer nur harmonisch, doch vor allem wird die Pluralität möglicher Lebensentwürfe erfahren. Es ist diese Vielgesichtigkeit der Existenzen, welche die Ideologen des erzwungenen Einheitsdenkens nachgerade verunsichert und welche diese im Gegenzug mit Terrorherrschaft und inszenierter Barbarei zu beunruhigen versuchen.
Wenn diese Analyse stimmt, und die Ideologie des „Islamischen Staates“ letztlich weniger die Schwächen der spielerischen Demokratie ausnutzt, als sie ihre eigentliche Stärke im Kern treffen will, dann müssen die ersten politischen Reaktionen letztlich ins Leere laufen. Die martialische Rhetorik, mit der der französische Präsident nun auf die „Kriegserklärung“ antwortet, erinnert verdächtig an die Wortwahl von George W. Bush im Irak, und die Intensivierung der Luftangriffe in Syrien kann nur das Opfernarrativ bekräftigen, aus dem der IS-Militärapparat einen Teil seiner Legitimität bezieht. Denn die chirurgischen Präzisionsschläge ferngesteuerter Drohnen müssen unweigerlich den Selbstmordattentäter als Komplementärfeind erzeugen. Das Leben selbst ist die Währung, mit der hier bezahlt wird, und keine noch so verfeinerte Kriegstechnologie wird der symbolischen Überlegenheit eines solchen Aufopferungsakts jemals beikommen können.
Diversität verteidigen
Es dürfte indes tendenziell schwieriger werden, sich gegen die lebensverneinenden Kräfte in naher Zukunft zu wehren, denn dort, wo Menschen zusammenkommen, ob politisch oder zum Spiel, werden sie zu potenziellen Zielscheiben. Dass Präsident Hollande ausgerechnet zu einer Maßnahme greift, die im 20. Jahrhundert vornehmlich totalitären Regimen diente, nämlich zur Verhängung des Ausnahmezustands, muss Grund zur Besorgnis sein. Wenn die Versammlungsfreiheit in den kommenden Monaten tatsächlich eingeschränkt werden sollte, ob nun rechtlich oder schlicht aus Selbstschutz der Bürger (immer mehr Pariser meiden nun öffentliche Orte) – die Attentäter hätten ein Stück weit schon gewonnen.
Genau hierin wird in Zukunft die Herausforderung liegen, für Frankreich und für andere Gesellschaften, die sich als demokratisch begreifen. Nicht von außen kommt die Bedrohung, es geht nicht um barbarische Horden, die an den Toren Europas lagern.
Der eigentliche Kampf wird sich ganz woanders abspielen, im Innern, ob die Angstmacher siegen werden oder ob Europa bereit sein wird, jene Diversität weiter zu verteidigen, die es stark und verwundbar zugleich sein lassen. Die Anschläge von Paris waren eine Kriegserklärung an die Vielfalt der Lebensformen. Was von dieser Vielfalt und von ihren Spielräumen übrig bleiben wird, daran wird sich der Sinn der europäischen Demokratie in den nächsten Jahren messen lassen müssen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau