Gewalt gegen Flüchtlinge in Sachsen: „Das wirkte organisiert“
Neonazis jagten Flüchtlinge durch Bautzen. Laut Polizei griffen die Geflüchteten zuerst an – doch der rechte Auflauf schien verabredet.
Am Mittwochabend hatte Ahrens’ Stadt für Negativschlagzeilen gesorgt. Laut Polizei lieferten sich 80 Deutsche „aus dem rechten Spektrum“ mit 20 Asylbewerbern auf dem Kornmarkt eine „Auseinandersetzung“. Die Rechten hätten Parolen skandiert, Bautzen und der Kornmarkt gehöre den Deutschen. Die Tätlichkeiten seien von den Flüchtlingen ausgegangen, nachdem es beiderseitig zu Verbalattacken gekommen war.
Laut Polizeibericht wurden Polizisten mit Gegenständen beworfen, als die Beamten beide Gruppen trennen wollten. Diese setzten daraufhin Schlagstöcke und Pfefferspray ein. Die Rechten wiederum verfolgten die Ausländer, die in eine Asylbewerberunterkunft flüchteten. Unter ihnen sollen zwei Araber mit Schnittverletzungen sein. Die Polizei, die mit etwa 100 Beamten im Einsatz war, schützte die 32 jungen Bewohner, bis die Verfolger abrückten.
Eine Augenzeugin schildert es der taz gegenüber anders. Bis zu 150 Rechte hätten sich am Abend versammelt, sagt die Bautzener Flüchtlingshelferin Annalena Schmidt, die zufällig vor Ort war. Die Autos seien aus umliegenden Städten gekommen, aus Kamenz oder Weißwasser. „Das wirkte organisiert und wurde immer bedrohlicher.“ Als die Polizei eintraf und den Flüchtlingen befahl, ins Heim „abzuhauen“, hätten diese Stöcke auf die Beamten geworfen. Diesen Moment hätten die Rechten genutzt und seien auf Asylbewerber zugestürmt. „Wir konnten nur noch rennen“, so Schmidt.
Neonazis feiern im Internet
Auf Videos sieht man diese Szene. Eine Personengruppe läuft dort über die Straße, skandiert „Wir sind das Volk“. Laut Polizei attackierte die Gruppe später noch einen Krankenwagen, der unterwegs zu einem verletzten 18-jährigen Flüchtling war, und zwang die Ärzte zum Umkehren.
Damit eskalieren die seit Längerem schwelenden Spannungen am Kornmarkt in Bautzen. Die 40.000-Einwohner-Stadt gilt auch als Hauptstadt der sorbischen Minderheit und verfügt eigentlich über bikulturelle Erfahrung. Im Februar war allerdings ein als Asylbewerberheim vorgesehenes ehemaliges Hotel angezündet worden. Schaulustige klatschten. Nach Auskünften von Einwohnern hat sich seither bei der Flüchtlingsarbeit in der Stadt wenig getan. Die Asylbewerber würden regelmäßig beleidigt, sagt auch Schmidt. Im Internet feierten lokale Neonazis die Ausschreitungen: „Danke Bautzen. #Pogromstimmung.“
Der Kornmarkt am Rande der Innenstadt gilt als Problemzone. Obdachlose halten sich hier auf. Flüchtlinge kommen ebenfalls gern, weil das nahe Kornmarkt-Center kostenfreies WLAN anbietet. Junge Deutsche treffen sich ebenfalls am Platz. Alkohol fließt reichlich.
Schon am Freitag liefen eine Kundgebung von Rechten und eine Gegendemo aus dem Ruder, an der sich auch Flüchtlinge beteiligten. Neonazis beschimpften Asylbewerber laut Zeugen als „Negerschweine“, es flogen Böller. Als ein Syrer eine Flasche warf, zückte ein Rechter ein Messer. Mehrfach musste die Polizei in den Folgetagen auf dem Kornmarkt kleinere Gruppen trennen, es gab Handgreiflichkeiten zwischen Rechten und Flüchtlingen. Holger Thieme, Chef des nahen Best-Western-Hotels, nannte die Situation „unerträglich“ und forderte ein Alkoholverbot, die Abschaltung der Hotspots und Platzverweise.
Der Landkreis will für die rund 30 jugendlichen Flüchtlinge nun tatsächlich ein Alkoholverbot und eine Ausgangssperre ab 19 Uhr aussprechen. Vier „Rädelsführer“ wurden laut einem Polizeisprecher am Donnerstag in andere Einrichtungen verlegt. Auf rechten Internetseiten wurde derweil aufgerufen, am Abend wieder auf den Kornmarkt zu kommen. Innenminister Markus Ulbig (CDU) kündigte an, die Polizeikräfte „anzupassen“ und „keine Gewaltexzesse zu tolerieren“.
Bürgermeister Ahrens hatte schon zuvor Streetworker, mehr Polizei und Ordnungsamt für den Platz versprochen. Nun übt er sich im Mutmachen: „Wir werden die Situation in den Griff bekommen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid