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Retrospektive Sarah LucasWo ist denn das starke Geschlecht?

Als wild galten die Young British Artist, zu denen Sarah Lucas gehört. Eine Retrospektive in Mannheim betont ihre sozialkritische Perspektive.

Bunny auf der Motorhaube: Sarah Lucas: „SIX CENT SOIXANTE SIX“, 2023 Foto: Katie Morrison, Sarah Lucas. Courtesy Sadie Coles HQ, London

Was früher ein Aufreger war, erscheint 25 Jahre später in einem weniger grellen Licht. Als die Britin Sarah Lukas 1999 in Berlin ausstellte, war das Medienecho groß. „Sex rules UK“ titelte die taz, „Nur echt mit Zigarette“ die FAZ und das Stadtmagazin Zitty unverblümt „Wenn Männer wichsen“.

Bekannt geworden mit den Young British Artists, setzte die Künstlerin damals auf krasse Bilder voller Anspielungen auf männliche Dominanz. Wer jetzt ihre Werkschau in der Mannheimer Kunsthalle mit dem Titel „Sarah Lucas. Sense of Human“ besucht, lernt nicht nur die Vielfalt ihrer Ausdrucksformen kennen, sondern entdeckt auch die Zwischentöne ihrer absurden Gesten.

Die Kuratorin Luisa Heese spricht von „einer der spannendsten Positionen der Skulptur der Gegenwart“. Die Ausstellung handele vom Menschen, von Normen, von Zuschreibungen, von „Maskulinitäten als soziale Konstruktion“. Die Künstlerin selbst macht weit weniger Aufhebens um ihre Person. Sie lebt heute auf dem Land in Suffolk und sinnierte kürzlich in einem Gespräch mit der britischen Tageszeitung Guardian über kostenlose Busfahrten, die ihr seit ihrem 60. Geburtstag zuteilwürden.

Die Ausstellung

„Sarah Lucas. Sense of Human“: Kunsthalle Mannheim, bis 20. Oktober 2024. Katalog: 32 Euro

Die schmale, mit leiser Stimme sprechende Künstlerin hat ihren Biss jedoch nicht verloren. Auch wenn sie selbst mit Distanz auf ihre frühen Werke blickt. Ikonisch wurde eine ihrer fotografischen Selbstporträts von 1996, das als Postkarte eine immense Verbreitung fand. „Selfportrait with fried eggs“ zeigt eine Person mit zerrissenen Jeans und olivgrünem Shirt breitbeinig in einem Armstuhl sitzend – mit zwei gebratenen Spiegeleiern auf den Brüsten.

Die Provokation in der Vergangenheit wird zur Fototapete

Diese „toughe“ Pose habe dazu geführt, dass sie auch als „toughe“ Person galt, sagt Sarah Lucas. Dabei sei das damals nichts Besonderes gewesen. Im Interview mit Johanna Adorján, das im Katalog zur Ausstellung nachzulesen ist, sagt sie: „Als Frau musste man sich darüber im Klaren sein, dass man nachts allein unterwegs verletzlich ist. Gefährdet. Ich hatte immer Doc Martens an. Das Androgyne hat mir sowieso gefallen.“

Die Tochter eines Milchmanns kam eher zufällig zur Kunst. Sie studierte in London am Goldsmiths College, wo sie jene Künstler kennenlernte, mit denen sie unter dem Label „Young British Artists“ berühmt werden sollte. Das war der Titel der Ausstellung, die, kuratiert von Damien Hirst, 1988 für Furore sorgte und eine Gruppe unangepasster junger Leute ins Zentrum der Aufmerksamkeit katapultierte.

Sarah Lucas selbst gelang der Durchbruch erst Mitte der neunziger Jahre. In dem sie sich männliche Posen aneignete und in surrealer Manier mit einem gerupften Huhn, einem schimmernden Lachs oder einem Totenkopf inszenierte, schuf sie rätselhafte, metaphorisch aufgeladene Bilder. In Mannheim zeigt die Künstlerin diese frühen Werke reinszeniert als monumentale Fototapeten. Lucas ergeht sich nicht in Männer-­Bashing, sondern spiegelt das Verhalten und den eingeschränkten Blickwinkel des sogenannten starken Geschlechts.

Heute gehört Sarah Lucas zu den führenden Künstlern Großbritanniens. Im vergangenen Jahr widmete ihr die Tate Britain in London eine große Schau, 2015 repräsentierte sie das Land auf der Biennale von Venedig. Ihr Werk wird von einflussreichen Galerien wie Sadie Coles (London), Barbara Glad­stone (New York) und CFA Contemporary Fine Arts (Berlin) vertreten.

Sessel abgefackelt zur Eröffnung

Die Berliner Galeristen Bruno Brunnet und Nicole Hackert (CFA) entdeckten Sarah Lucas zu Beginn der neunziger Jahre, als die Stadt noch im Jetlag des Mauerfalls lag. Brunnet erzählt im Katalog von der Zeit, als die Paris Bar unangefochten der place to be war. Für ihre erste Ausstellung 1996 in ihren neuen Räumen in Mitte steckten sie vor der Tür einen alten Sessel in Brand, nur wenige Minuten, damit er verkohlt aussah.

Sarah Lucas, Au Naturel, 1994, Matratze, Melonen, Orangen, Gurke, Wassereimer, Gesamtgröße: 84 x 167,8 x 144,8 cm Foto: Sarah Lucas. Courtesy Sadie Coles HQ, London

Sarah hatte ihn zuvor in Berlin-Charlottenburg auf einem Balkon entdeckt und dem Besitzer abgekauft. Auf der Sitzfläche thront ein aus Zigaretten geformter Integralhelm. In der Mannheimer Ausstellung erinnert die Skulptur „Is Suicide Genetic?“ an die Ära kettenrauchender Motorradfahrer.

Seit den nuller Jahren dominieren ihre grotesken „Bunnys“ ihre Produktion. Dabei handelt es sich um Figuren aus ausgestopften Strumpfhosen. Bündel aus gebastelten Genitalien und Beinen ohne Kopf lümmeln auf Stühlen, die von einer sexualisierten Gesellschaft erzählen. Reale Stühle und Sessel dienen ihren Figuren als Sockel.

Es ist immer etwas Alltägliches in ihren Arbeiten, das das Überdrehte erdet

Es ist immer etwas Alltägliches in ihren Arbeiten, das das Überdrehte erdet. Für ihren Biennale-Auftritt 2015 im britischen Pavillon formte sie die Körper von Freundinnen von den Brüsten abwärts in liegender Pose ab. Einer dieser Torsi liegt auf einer Kühltruhe, im After eine Zigarette.

Pop ist allgegenwärtig in ihrem Werk. Zeppelin-Skulpturen, wohl benannt nach der Rockgruppe Led Zeppelin, hängen wie ein stummer Soundtrack von der Decke. Es gibt Exemplare aus Beton, beklebt mit Coca-Cola-Logos oder hautfarben mit Unterarm in deutlicher Auf-und-ab-Bewegung. Ein Penis sei aber nicht zu sehen, bemerkt Sarah Lucas im erwähnten Interview. Die Interpretation überlässt sie den Betrachtern. „Die Bunnys haben durchaus Persönlichkeit“, bemerkt sie beim Rundgang durch die Mannheimer Ausstellung. „Finden Sie nicht?“

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