„March for our lives“ in den USA: „Wir lassen uns nicht abspeisen“
Über eine Million Menschen haben gegen Waffengewalt demonstriert. Die vorwiegend jungen Menschen forcieren eine politische Debatte.
Falls das nicht passiere, so eine von Anchorage über Milwaukee bis Phoenix vielfach wiederholte Drohung: „…werden wir uns im November erinnern“. Im November stehen Kongresswahlen an, bei denen viele AkteurInnen der neuen Bewegung zum ersten Mal abstimmen dürfen.
„Wir lassen uns nicht mit Brosamen abspeisen“, rief Delaney Tarr, eine Überlebende von der Marjory-Stoneman-Douglas-Schule in Washington ins Mikrofon. „Wir haben entschieden, dass wir etwas tun, nachdem die Erwachsenen es nicht tun“, sagte Alex Wind, ein anderer Überlebender aus Parkland. Zu der Absicht der NRA, möglichst viele Menschen in den USA zu bewaffnen, sagte Wind: „Das werden wir verhindern“.
Allein in Washington hatten sich 800.000 Menschen bei der zentralen Demonstration des Tages ab Mittag über die Pennsylvania Avenue in Richtung US-Kongress bewegt. Auf ihren Transparenten war zu lesen „Books not Bullets“ (Bücher statt Kugeln), „Nur Republikaner sind einfacher zu kaufen, als Schusswaffen“, „Wir brauchen keine Gedanken und Gebete, sondern Taten“ und: „Ich bin ein Lehrer und kein Scharfschütze“. Immer wieder auch dankten alte DemonstrantInnen den jungen Leuten: „Zum Glück haben wir unsere Kinder“.
Zugangsalter zu halbautomatischen Waffen heraufgesetzt
Von ihrer Bühne aus, die von der Kuppel des Kongresses überragt wurde, machten die RednerInnen klar, dass sie nicht weichen werden. In den sechs Wochen seit dem Massaker sind sie ununterbrochen unterwegs gewesen, haben an ihren Forderungen gefeilt, Manifeste geschrieben, das Land bereist, Interviews gegeben, professionelle PR-Beratung und hohe Geldspenden bekommen und dabei ein Profil gewonnen, wie es vor ihnen keine Gruppe von Überlebenden von Massakern hatten.
Anstatt der sonst üblichen Betroffenheit, die auf Massaker in Schulen, Kirchen, Kinos und bei Konzerten folgt und mehrere Tage später wieder in sich zusammensackt, ist dieses Mal eine politische Diskussion entstanden. Überlebende benennen die politisch Verantwortlichen und verlangen politische Konsequenzen.
In ihren ersten Auftritten nach dem Massaker hatten Jugendliche aus Parkland erklärt, dass das letzte Schulmassaker sein würde. Das ist leider nicht wahr geworden: Seit dem 14. Februar sind mehr als 70 Teenager in den USA erschossen worden, darunter einige bei Schießereien in Schulen. Aber zumindest erscheinen nun Reformen möglich. Selbst das schusswaffenfreundliche Florida hat sich unter dem Druck der neuen Bewegung gezwungen gesehen, eine kleine Reform zu verabschieden, die das Zugangsalter zu halbautomatischen Waffen auf 21 Jahre heraufsetzt, dabei allerdings zugleich die Bewaffnung von LehrerInnen zulässt. Die Überlebenden reagierten so: „Wir brauchen mehr und werden es durchsetzen.“
In den zurückliegenden Wochen haben sie sich auch mit anderen Opfern vernetzt: mit Überlebenden anderer Schulschießereien wie der in Newtown, Connecticut, mit Opfern von Bandenkriminalität wie auf der Southside von Chicago und mit Angehörigen der Opfer von Polizeigewalt, die sich gegen AfroamerikanerInnen und Latinos richtet. Am Samstag haben mehrere Vertreter dieser vernetzten Gruppen ebenfalls in Washington gesprochen. Edna Chavez aus Los Angeles, sagte: „Ich habe viele meiner Lieben durch Schusswaffengewalt verloren. Noch bevor ich lesen konnte, habe ich gelernt, mich unter Kugeln zu wegzuducken“. Auch ihr Bruder Ricardo ist ein Opfer der Schusswaffengewalt.
„Wer keine Schusswaffenkontrollen einführt, wird abgewählt“, rief David Hogg, ein weiterer Überlebender aus Parkland. Er und andere sagen, dass sie PolitikerInnen feuern wollen, die Geld von der NRA nehmen. Das trifft auf fast alle RepublikanerInnen sowie eine Handvoll DemokratInnen im Kongress zu. Am Rand der Demonstrationsrouten verteilten AktivistInnen Material, um ErstwählerInnen zu registrieren. Sie haben sich vorgenommen, die üblicherweise extrem niedrige Wahlbeteilung der unter 25-Jährigen zu erhöhen.
Trump spielte lieber Golf
US-Präsident Donald Trump hat kürzlich vor Gouverneuren behauptet, er wäre in die Marjory-Stoneman-Douglas-Schule hineingerannt, wäre er Zeuge des Massakers geworden. Aber am Samstag, als die SchülerInnen nach Washington kamen, zog er es vor, die Stadt zu verlassen. Während sie demonstrierten, spielte er Golf in Florida. Auf dem Rückweg zu seinem Landsitz Mar-a-Lago fuhr seine Kolonne einen Umweg, und wich damit einer örtlichen Demonstration aus.
Die Ex-Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama dankten den jungen DemonstrantInnen. Auch zahlreiche Prominente lobten sie dafür, dass sie sich mit den Fehlern der Erwachsenen beschäftigen Aber Trump würdigte die Mobilisierung mit keinem Tweet. Seit dem Massaker von Florida hat er nur mit solchen Überlebenden Kontakt aufgenommen, die politisch mit ihm übereinstimmen. Einige Überlebende durften zu einer Gesprächsrunde im Weißen Haus kommen. Kyle Kashuv, ein konservativer junger Mann aus der Schule, der öffentlich gegen ein Verbot von halbautomatischen Waffen eintritt, bekam sogar eine persönliche Audienz mit Melania Trump.
Zu den stärksten Momenten am Samstag gehörte ein Auftritt von Emma González. Die junge Frau, die im Februar mit einer leidenschaftlichen Rede für weltweite Aufmerksamkeit gesorgt hatte, bewegte in Washington die Menge durch Schweigen. Sie zählte die Namen ihrer erschossenen SchulkameradInnen auf, sowie Dinge, die sie nicht mehr tun können. Dann schwieg sie, während ihr Tränen über das Gesicht liefen, und schwieg – fast 6 Minuten und 20 Sekunden lang, was der Dauer des Massakers vom Valentinstag entsprochen hätte.
Empfohlener externer Inhalt
Eine andere junge Überlebende, die bei dem Massaker Schussverletzungen im Gesicht erlitten hat, musste sich während ihrer Rede übergeben. Doch Samantha Fuentes tauchte schon wenige Sekunden später wieder hinter ihrem Pult auf und setzte ihren Auftritt mit der Bemerkung fort: „Ich habe gerade vor den internationalen TV-Kameras gekotzt“. Zum Abschluss sang sie ein bewegendes Happy Birthday für einen Freund, den am 14. Februar erschossenen Nick Dworet, der am Samstag 18 geworden wäre. Die Menge sang das Geburtstagslied für den jungen Toten mit.
In New York, wo rund 150.000 Menschen gekommen waren, war die Upper West Side voll mit DemonstrantInnen. Mit von der Partie war auch Ex-Beatle Paul McCartney mit einem schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift: „Wir können die Schusswaffengewalt beenden“. Zu einem Reporter sagte er, dass er an dieser Stelle einen seiner besten Freunde durch Schusswaffengewalt verloren hat. Sein Bandkollege John Lennon war 1980 am Eingang des Dakota-Gebäudes am New Yorker Central Park erschossen worden.
March for our lives
In Washington hatte Bürgermeisterin Muriel Bowser das Tragen von Schusswaffen in der Umgebung der Demonstrationsroute am Samstag verboten. Doch an anderen Orten in den USA kamen bewaffnete Schusswaffenfans ganz nah an die DemonstrantInnen heran, um den zweiten Verfassungszusatz aus dem Jahr 1791 zu verteidigen. Ohne ihre Waffen, so lautet eines ihrer Argumente, könnten sie sich nicht gegen Tyrannen verteidigen. In Boston und in Salt Lake City waren einigen von ihnen mit geschultertem Gewehr auf der einen Seite und einem Transparent in der anderen Hand zu sehen. Auf Letzterem war zu lesen: „Komm doch und nimm es mir weg“.
Bei der zentralen Demonstration in Washington sorgte eine Überlebende aus Parkland, die Schülerin Jaclyn Coryn, für einen Höhepunkt, als sie nach ihrer Rede hinter die Bühne ging, um eine „Überraschung“ zu holen. Sie kam mit Yolanda Renee King an der Hand zurück. Die Neunjährige hat ihren vor einem halben Jahrhundert ermordeten Großvater Martin Luther King nicht persönlich kennengelernt. Aber mit ihr kam eine Verbindung zu einem anderen historischen Moment in der US-Geschichte auf die Bühne.
Auch in der schwarzen Bürgerbewegung spielten Teenager – bei den Busboykotten, bei den Besuchen in „verbotenen“ Restaurants und bei Demonstrationen – eine zentrale Rolle. Die King-Enkelin nahm das Mikrofon in die Hand, strahlte in die Menge der 800.000, sprach über ihren Traum von einer waffenfreien Welt und ließ die DemonstrantInnen gemeinsam drei mal ihre Botschaft an die Menge rufen. Sie lautete: „Wir werden eine große Generation sein“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin