Neuer UNHCR-Chef über Koalitionsvertrag: „Sehr viele Fragen bleiben offen“
Deutschland ist nach den USA zweitgrößter Geldgeber der UN-Flüchtlingshilfe. Dennoch kritisiert Dominik Bartsch die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.
taz: Herr Bartsch, im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist vor allem von Abschottung die Rede. Als der Vertrag bekannt wurde, lobten Sie auf Twitter Deutschland als „Geber und als Partner“ des UNHCR. War das angemessen, auch angesichts der Rolle Deutschlands in Libyen oder auf dem Mittelmeer?
Dominik Bartsch: Dass wir das internationale Engagement der Bundesregierung begrüßen, heißt nicht, dass wir sie nicht im Land kritisieren. Die Bundesregierung hat eine ganz wichtige Rolle eingenommen und damit ein ganz klares Bekenntnis zur Solidarität abgegeben. Das müssen wir betonen, gerade auch als Beispiel für andere Länder. Deutschland ist nach den USA zweitgrößter Geber für den UNHCR. Ohne deutsche Unterstützung würde es vielen Flüchtlingen deutlich schlechter gehen. Unabhängig davon wächst innenpolitisch der Druck, die Asylfrage wird immer konträrer diskutiert. Das ist für uns Anlass zur Sorge. Wir haben uns zum Koalitionsvertrag sehr wohl geäußert und benannt, was davon mit unserer Auffassung zum Flüchtlingsschutz nicht vereinbar ist. Bei der Regelung zum Familiennachzug haben wir uns zum Beispiel mehr erhofft, und bei den „Anker“-Zentren sehen wir viele offene Fragen.
Zunehmend taucht die Forderung nach einer Streichung des individuellen Grundrechts auf Asyl auf. Was wollen Sie dagegen tun?
Wir haben im Koalitionsvertrag ein ganz klares Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention, so sehen wir auch das Grundrecht auf Asyl in Deutschland nicht in Gefahr. Unsere allerwichtigste Forderung an die Bundesregierung ist, dass der Zugang nach Europa gewährleistet werden muss. Wir beobachten die Diskussion um die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems deshalb sehr genau. Wir müssen sicherstellen, dass die Institution des Asyls als solche aufrechterhalten wird.
Warum steht das in Frage?
Wir befürchten, dass über europäische Verhandlungen eine Situation entsteht, in der Asyl in der EU über das neue Dublin-System ausgehebelt wird.
Die geplante Dublin IV-Verordnung sieht vor, Asylsuchende wenn irgend möglich in die Nachbarstaaten der EU zurückzuschicken, damit sie da ihren Antrag stellen. Wie soll das möglich sein?
Das bereitet uns große Sorgen. Wir müssen sicher sein, dass die Prüfung des Schutzbedarfs das zentrale Kriterium bleibt. Mit diesen Plänen hängt auch die geplante EU-Liste der so genannten sicheren Drittstaaten zusammen. Auch da haben wir Vorbehalte.
Es heißt, Deutschland werde sich künftig seiner humanitären Verantwortung über das Resettlement stellen. Dabei dürfen vom UNHCR vorab ausgesuchte Flüchtlinge per Kontingent einreisen. Deutschland nahm auf diese Art immer sehr wenige Menschen auf. Warum sollte sich das ändern?
Deutschland hat durchaus eine signifikante Zahl aufgenommen – dennoch muss die Zahl erhöht werden. Uns ist sehr wichtig, dass Resettlement nicht als Ersatz für den individuellen Zugang zu Flüchtlingsschutz angesehen wird. In der öffentlichen Diskussion ist der Eindruck entstanden, dass das eine mit dem anderen kompensiert werden kann. Das ist nicht in unserem Sinne.
Wer in Europa Asyl will, muss heute illegal einreisen. Was könnte die Alternative sein?
Möglichkeiten dazu wären etwa Stipendien für Flüchtlinge, die hier ihre Studien abschließen, oder Arbeitsvisa für anerkannte Flüchtlinge.
Wer individuell Schutz beantragen möchte, müsste dennoch weiter illegal ins Land kommen.
Wir gehen davon aus, dass solche Bewegungen nicht in allen Aspekten steuerbar sind. Übrigens kennt die Genfer Flüchtlingskonvention keine „illegale Einreise“, denn wer verfolgt ist, kann in den seltensten Fällen den Behördenweg gehen.
Deutschland will die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU neuerdings mit Sanktionen erzwingen. Was haben die Flüchtlinge davon, in Staaten gebracht zu werden, in die sie nicht wollen und die sie nicht wollen?
Ein Verteilmechanismus wäre essentieller Bestandteil eines Systems europäischer Solidarität, das es geben sollte. Wie er genau aussehen könnte, ist nicht zu Ende diskutiert. Für uns ist wichtig, dass die Familienzusammenführung ganz am Anfang steht. Wer einen Angehörigen in einem Land hat, soll diesem Land zugewiesen werden.
Sie sagen, der Koalitionsvertrag sei ein „ganz klares Bekenntnis“ zur Flüchtlingskonvention. Doch darin wird „festgestellt“, dass die „Zuwanderungszahlen die Spanne von jährlich 180.000 bis 220.000 nicht übersteigen werden“. Was, wenn es doch mehr werden?
Im Völkerrecht ist eine Obergrenze nicht vorgesehen, da wollte die Koalition möglicherweise eine Streitfrage umschiffen. Ich bin mir aber sicher, dass Deutschland seinen Verpflichtungen nachkommen und keine Schutzsuchenden an der Grenze abweisen wird.
Die Große Koalition will alle Flüchtlinge bis zu 18 Monate in „Anker“ genannte Großlager nach dem Vorbild der bayrischen „Ankunfts- und Rückführungseinrichtungen“ stecken. Asylorganisationen kritisieren, dass es da keine unabhängige Rechtsberatung gibt. Auch Presse darf nicht hinein. Sie durften – wie war Ihr Eindruck?
Wir haben beide Zentren in Bamberg und Manching besucht. Es ist in der Tat so, dass es dort keine unabhängige Asylberatung gibt. Das Bundesamt als Entscheider kann nicht gleichzeitig unabhängig beraten. Die Beratung sollten deshalb andere machen. Wir drängen sehr darauf.
Nun sollen solche Lager bundesweit aufgebaut werden. Wurden Sie dabei einbezogen?
Wir sind nicht gefragt worden. Wir werden uns aber verstärkt in die Diskussion einbringen.
Seit 2016 wurden Hunderte Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben. Darf das weiter geschehen?
Der politische Druck wächst in diese Richtung. Wir sagen, dass die Einzelfallprüfung die Hauptprämisse sein muss. Es muss sehr sauber geprüft werden, welche Umstände es individuell gibt, statt das Land pauschal in vermeintlich sichere und vermeintlich unsichere Gebiete aufzuteilen. Wir würden darauf drängen, dass auch Fälle, deren Ablehnung weiter zurück liegt, nochmal angesehen werden.
Ist Afghanistan der einzige Sonderfall, in dem Sie Abschiebungen generell kritisch sehen?
Es ist der Fall, der in der Öffentlichkeit sehr kritisch wahrgenommen wird. Aber es gibt auch andere Herkunftsländer, bei denen wir das so sehen.
Welche denn?
Im Irak gibt es sehr viele gefährliche Regionen und deshalb nur in Ausnahmen interne Fluchtalternativen.
Wieder nach Syrien abzuschieben war der erste Antrag der AfD im Bundestag, die deshalb jetzt auch eine Delegation nach Syrien geschickt hat. Auch in der CDU denken schon manche über Syrien-Abschiebungen nach. Wie wollen Sie die Syrien-Diskussion beeinflussen?
Ein erheblicher Teil der Flüchtlinge kehrt nach dem Ende von Krisen in ihr Herkunftsland zurück. Die Motivation dazu ist oft sehr stark. Das ist unsere Prämisse. Aber ganz wichtig ist: Die Rückkehr muss freiwillig sein. Sie darf nicht erzwungen werden. Hier würden wir anmahnen, dass die Diskussion über eine Rückkehr nach Syrien, wo heute aus allen Rohren weiter gebombt wird, ganz sicher verfrüht ist. Mittelfristig raten wir davon ab, das zu thematisieren.
51, ist seit Februar Repräsentant des UNHCR in Deutschland. Er arbeitet seit 1990 bei den Vereinten Nationen, unter anderem in New York, Genf, Sambia, Kenia, Afghanistan, Irak.
Es wird aber thematisiert: Es gibt staatliche „Rückkehrberatung“ auch für Syrer. Ist das legitim?
Letztlich ist es eine individuelle Entscheidung. Wenn ein Flüchtling nach intensiver Beratung sagt: ‚Ich will zurück‘, dann ist das auch richtig, so lange es freiwillig geschieht.
Zur „freiwilligen Ausreise“ hat die Bundesregierung die Zahlungen an Ausreisewillige erhöht. Auch Syrer kriegen heute Geld, wenn sie in ihr Herkunftsland zurückkehren. Diese Prämien sind für alle Flüchtlinge umso höher, je früher sie gehen. Wer gar nicht erst einen Asylantrag stellt, kriegt am meisten Geld. Ist das auch richtig?
Diese Praxis ist ungewöhnlich, aber grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden. Es gibt viele Gründe, warum Menschen in ihre Heimat zurück möchten – irgendwelche Prämien sind sicher nicht die entscheidenden.
Restriktionen gegen Flüchtlinge werden teilweise damit begründet, dass die Bevölkerung Ängste vor diesen habe. Welchen Umgang schlagen Sie vor?
Angst gibt es auch auf Seiten der Flüchtlinge. Sie machen sich Sorgen um das, was mit ihnen hier weiter passiert, welchen Status sie bekommen. Das direkte Gespräch ist da umso wichtiger. Wir raten dazu und wünschen uns, dass möglichst viele Menschen weiterhin auf privater Ebene den unmittelbaren Kontakt mit Flüchtlingen suchen. Das ist der beste Weg, um Ängste auf beiden Seiten abzubauen. Deshalb sind wir sehr froh, dass es nach wie vor sehr viele entsprechende private Initiativen in der Flüchtlingshilfe gibt. Eine Allensbach-Untersuchung hat gerade gezeigt, dass auch heute noch 19 Prozent der Bevölkerung unterstützend für Flüchtlinge tätig sind, darunter elf Prozent aktive Helfer. Das macht Hoffnung.
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