Baumhäuser im Hambacher Forst: Gericht stoppt Rodung, Besetzer feiern
Der Wald muss weg, sagt RWE. Der Wald bleibt, verlangen die Besetzer. Über den militanten Widerstand gegen den Braunkohleabbau.
Ein dichter Kordon aus Polizisten in Kampfuniformen und vielen Werkschützern mit weißen Helmen und gelben Jacken riegelt das Gelände ab. Einige hundert sind hier. Ein Dutzend Schreiber, Fotografen und Kameraleute will das Geschehen dokumentieren. Wir stehen an der Straße, die senkrecht auf das größte Loch Deutschlands zuführt, 400 Meter von der 400 Meter tiefen Grube entfernt.
Der Werkschutz sagt: Kein Meter, weiter; Hausrecht. Die Polizei sagt, der Werkschutz bestimme. Geht man dann weiter im Wald parallel zur Straße als polizeilicher Demarkationslinie, laufen gleich ein oder zwei Beamte parallel mit. Ein albernes Spiel. Bewegungen im besetzten Wald werden sofort durchgegeben: „Gruppe von etwa 20 Leuten unterwegs in westlicher Richtung.“ Zu dieser Zeit ahnte noch niemand, was am späten Nachmittag in Münster passieren würde.
Am Telefon bestätigt RWE-Pressesprecher Guido Steffen: „Ja, eine Dame hockt im Baum.“ Sie werde aber bald mit einem Hubkran heruntergeholt. Wie kommen wir Presseleute dahin, soll und kann uns jemand vom Werkschutz begleiten? Ausgeschlossen, zu gefährlich, sagt Steffen. Und nein, da können Sie auch nicht auf eigene Gefahr hingehen: „Ich kann uns ja nicht fernmündlich aus der Haftung nehmen.“
Die Besetzer: „Der Hambi muss bleiben“
Der Hambacher Forst liegt auf halber Strecke zwischen Aachen und Köln. Längst ist der Wald Symbol des Kampfes der Klimabewegung geworden gegen die Braunkohle, gegen die Bagger, die Umweltvergiftung durch die Kohleverstromung, gegen das Kapital, den Kapitalismus und überhaupt. „Der Hambi muss bleiben“, haben die Gegner auf Transparente geschrieben. Zwischen den Bäumen hindurch seilt sich gerade eine andere Besetzerdame über eine der zahllosen Barrikaden im Wald und hängt ein neues Banner auf: „Ob friedlich oder militant, wichtig ist der Widerstand.“
Tags zuvor ist es rabiat losgegangen, als im strömenden Regen die ersten Bäume dieser Rodungssaison fallen, knapp außerhalb des großen besetzten Terrains. Protestler hätten Steine auf Polizisten geworfen und wollten zum Rodungsbereich vordringen, heißt es. Dokumentiert ist massiver Einsatz von Pfefferspray von der Gegenseite. Leichtverletzte gibt es auf beiden Seiten. Die Stimmung: aggressiv. Aachens Polizeipräsident Dirk Weinspach, der als ausgesprochen liberal gilt und weiter „auf Transparenz, Dialog und Deeskalation“ setzen will, wird später sagen: „Der Spielraum ist kleiner geworden“, der Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray sei auch weiterhin nicht auszuschließen. Zumal man am Montag Christbaumkugeln gefunden habe, mit unbekannten chemischen Substanzen gefüllt. „Bombenartige Gegenstände“, so die Aachener Nachrichten.
Im Innern des Waldes ist die Stimmung gut an diesem Dienstag. Klar, sagt einer der vielen Vermummten, das sei schon „eine tolle Sache“, den Baum zu besetzen. Wie die Frau heiße, die den Baum erklommen hat? „Thomas“, sagt er, nennen wir sie Thomas. Hier haben alle Aliasnamen. Neuerdings tauschen die Besatzer dabei auch die Geschlechter. Eine Gruppe Englischsprachiger bekommt den kurzen Dialog übersetzt. Von Lady Thomas ist die Rede. Und sie hocke da nicht, erklärt der Vermummte, sondern hänge oben im Geäst in einer schönen Hängematte, warm eingepackt, gut versorgt mit Speis und Trank. Per Handy sei man im Kontakt. „Doch, der geht’s gut.“ Kran? Bislang nicht.
Der heutige Hambacher Forst ist nur noch ein Rest, aber von großem symbolischem Wert. Von einst 5.500 Hektar sind keine tausend mehr übrig vom letzten europäischen Stieleichen-Hainbuchen-Maiglöckchen-Wald, so der botanische Name, 12.000 Jahre alt. Stellenweise zauberhaft schön im Frühjahr, „rheinische Everglades“, hat mal jemand gesagt. Alles andere ist seit 1978 weggebaggert im größten rheinischen Tagebau: Dutzende Dörfer sind verschwunden. Zwei Orte, traurige Geisterdörfer längst, stehen noch auf der Liste. Auch die alte Autobahn A 4 musste weichen. Stattdessen gibt es vier Kilometer südlich eine neue A 4.
Verhärtete Fronten seit Jahrzehnten
Niemand weiß, wann die Räumung der Baumhäuser ansteht. Überhaupt noch in diesem Winter? Wo genau will RWE weiter roden? Ob RWE die Staatsmacht um präventive Räumung bittet – eine Frage der Strategie. Und eine juristische: Ein Aktivist glaubt, für jedes einzelne Baumhaus müsse, sofern man nicht mit Gefahr im Verzug argumentiere, ein Richter einen Räumungsbefehl unterschreiben, wie bei einer ganz normalen Wohnung. „Die trauen sich aber nicht hier rein und manche wollen auch nicht.“ Um den Braunkohletagebau nicht weiter zu fördern.
Die Fronten sind seit Jahrzehnten verhärtet: Die Bevölkerung rund um die rheinischen Tagebaue befürwortet den Heimatfraß vielfach mit Hingabe; klar, man wird satt entschädigt oder ist gleich bei RWE angestellt. Da wird dann auf die Chaoten, Anarchisten und Gewalttäter geschimpft, oft werden auch Sanktionen gefordert, die mit dem Rechtsstaat nicht mehr viel zu tun haben. In den Onlinekommentaren der Aachener Zeitung klang das am Mittwoch so: „Diese Kreaturen . . ., dieses Schmarotzerpack . . ., dieser Dreck . . .“ Einer antwortete mit Ironie: „Ja, das sind alles kleine nordkoreanische Despoten!“
Wie aus einem Kubikmeter Holz eine Barrikade wird
Unterwegs im Wald auf den durchgematschten Wegen fragt ein Aktivist, ob ich mal eben mit anpacken könne. Klar, man ist ja hilfsbereit. Eine Riesenwurzel per Zugseilsystem aus dem Unterholz auf den Weg wuchten, acht Leute, ein nasser Kubikmeter Holz, mindestens eine halbe Tonne schwer. Wir keuchen fast eine halbe Stunde. Dann steht die Barrikade. Habe ich jetzt meine Neutralität als Journalist verletzt, mich gar strafbar gemacht? Als ich später neben ein paar Polizisten stehe, fallen einem Beamten unbemerkt die Handschuhe herunter. Ich hebe sie ihm auf. Er ist sehr dankbar. Ausgleich! Neutralität wieder hergestellt.
Proteste im rheinischen Revier gibt es seit Jahrzehnten. Sie werden nachdrücklicher. Zum Klimagipfel Anfang November hatten 3.000 Menschen zeitweilig den Tagebau besetzt, Einzelne ketteten sich an Bagger und legten für ein paar Stunden das Kraftwerk Weisweiler lahm. Weisweiler gilt als die dreckigste unter den dreckigen CO2-Emittenten.
Michael Zobel, Waldpädagoge
Der Wald ist seit gut fünf Jahren teilweise besetzt. Jahrelang gab es ein paar einzelne Baumhäuser. In diesem Sommer sind es 40 geworden. Das Dorf „Gallien“, das größte von vieren, ist eine Baumhaussiedlung von rund hundert Metern Umfang, manche der 15 Häuser schweben an die 15 Meter über der Erde. Sie sind mit einem Spinnennetz aus Stahlseilen miteinander verbunden. Dazu viele Zelte am Boden. Insgesamt leben an die 200 Leute mittlerweile im Wald, vielleicht sogar mehr. Gerade singen einige gut gelaunt: „Wir bauen nur ein Haus, und wenn die Bullen kommen, dann schmeißen wir sie raus.“ Einer schlägt dazu aus einem Baumhaus das Tambourin.
Kleingruppen seien unterwegs, erzählt einer, sie versuchten in den Rodungsbereich vorzudringen. Hängematte dabei? „Vielleicht . . .“ Lady Thomas wurde am frühen Nachmittag aus dem Baum geholt. Angeblich wurden direkt neben ihr Bäume gefällt, behauptet der Newsticker der BesetzerInnen, RWE bringe sie „bewusst in Lebensgefahr“. Sichtbar gerodet wurde, mit ein paar Stunden Verspätung, ein Stück weiter.
Es gelingt, in die Nähe zu kommen seitlich eines Sandwalls, den RWE quer über die Straße geschüttet hat (auch die andere Seite baut Barrikaden). Schweres Gerät ist lautstark dabei: Baum anvisieren, zupacken, ab. Krrrk, Streichholz für Streichholz. Die Stämme von drei Metern Länge werden sortenrein aufgestapelt, die Birken hier, die besonders harten und wertvollen Hainbuchen daneben. Äste und dünne Stämme werden vor Ort gehäckselt und in die vorgefahrenen Trucks geblasen. „Holz aus der Region. Wir liefern erneuerbare Energie“, wirbt darauf groß die Firma Energieholz GmbH. Die Riesen-Lkws sind von der niederländischen Firma Kraker Trailers mit dem, so die Firmenseite, „revolutionären, neuen Schubbodenauflieger“. Ruckzuck geht das, ein Wagen nach dem anderen. Holzverkauf ist ein Nebenerwerb von RWE.
Eine Drohne surrt über die Wipfel. Filmen die Waldbesetzer, fliegt die Polizei Aufklärungseinsätze? Man weiß es nicht.
Klettererfahrung? Nicht so. Na, macht nichts
Seit fünf Jahren gibt es am südlichen Waldrand, auf dem Privatgelände eines Gönners, das Wiesencamp, eine Ansammlung von einem Dutzend alter Wohnwagen, Zeltanlagen, diversen Gemeinschaftshäusern, teils aus Lehm kunstvoll errichtet, teils Bretterverschläge. Seitwärts steht ein neues richtig schickes Baumhaus in hellem Vollholz. „Unser Widerstand soll schöner werden“, könnte daran stehen. Es geht international zu: Hier wienert es, dort reden Leute spanisch, andere englisch. Einheimische Sympathisanten unterstützen sie mit reichlich Geld- und Sachspenden, vor allem aus Buir, dem Nachbardorf. Buir steht eine Existenz unmittelbar am Loch bevor, das doppelt so tief herunterreicht, wie der Kölner Dom hoch ist.
Eine junge Frau übt im Wiesencamp gerade anhörlich klassische Melodien auf der Geige, neben ihrem Musikhaus steht ein meterhoher rot-weißer Weihnachtsmann aus Holz. Feiern die hier Heilige Nacht? „Also ich nicht“, sagt ein Passant mit Rastalocken, „die meisten wohl nicht. Weiß auch nicht, wo das Ding herkommt.“ In einem Rundhaus ist sogar ein Widerstandsmuseum entstanden: Fotos, Fundstücke, Kinderzeichnungen. Dazwischen Schlafsäcke: Notaufnahmelager; es ist voll im Camp. In der Gemeinschaftsküche wird frisch geerntetes Gemüse klein gehäckselt. Die Sonne strahlt. Es könnte ein Freizeitidyll sein.
Immer mehr Menschen tauchen an diesem Tag im Wald auf. An einer Baumstammbarrikade fallen sich zwei von ihnen in die Arme: „Mensch, wir kennen uns doch aus Freiburg! Bist du schon lange hier?“ Über die Wiese kommen zwei junge Frauen mit dicken Rucksäcken vom Bahnhof Buir angestapft. Sie sind aus Eberswalde bei Berlin angereist. Zum erstem Mal hier, ja. „Wo geht es nach Gallien?“ Dort werden sie im Empfang genommen. Ob sie Klettererfahrung hätten? Nicht so. Na, macht nichts. Willkommen im Camp. Oben hängt das leuchtend-bunte Banner „Verteidigt Freiräume. Organisiert Anarchie.“ Hmmm, Anarchie organisieren? Ist das nicht wie Bahnsteigkarten kaufen, bevor man einen Bahnhof besetzt?
Jubel mit Billigbier nach dem Urteil
Um kurz vor halb fünf klingelt bei Stephanie (Name geändert) das Telefon. „Echt wahr?“, ruft er laut, „das ist ja geiiiil, super!“ Er jauchzt, gibt die Nachricht gleich weiter. Das Oberverwaltungsgericht Münster habe soeben die weiteren Rodungen per einstweiliger Verfügung gestoppt. Sägen stopp. Das Gericht rechnet „angesichts der Komplexität des Sachverhaltes und der sich stellenden Rechtsfragen“ mit einer längeren Prüfung. Das Aussetzen der Rodungsarbeiten sei „zur Vermeidung irreversibler Zustände erforderlich“.
Das bedeutet: Der Hambacher Forst darf, Stand jetzt, womöglich durchatmen bis zum Schluss der Rodungssaison Ende Februar. Gäbe es hier im Wald Champagner, die Korken wären bis Baumhaushöhe geflogen. So tut es das Billigbier. Bei der RWE Power AG („mit ganzer Kraft“) nehmen sie wahrscheinlich Alka-Seltzer. Es gibt am Abend eine spärliche Erklärung: Man sei überrascht. Der gerichtliche Stopp kam gerade rechtzeitig: Nach taz-Informationen war für Donnerstag der größte Polizeieinsatz aller Zeiten im Hambacher Forst geplant, mehr als tausend Polizisten, schweres Gerät, Kompletträumung, alles weg im Wald.
Stattdessen in der Nacht ein gigantisches Fest: Die Grüne Jugend Düren schleppt eine mächtige Soundanlage an, wild und ausgelassen wird getanzt. Vor lauter Euphorie reißen ein paar Leute einen Krater in die Zufahrtsstraße: Asphalttagebau alternativ. Lautstark hallt durch den Wald in Richtung des Werkschutzes: „Wir haben Spaß, und Ihr habt Bereitschaft.“ Von dem Jubelfeuer fühlen sich die Securityleute bedroht und rufen nach der Polizei. Noch einmal rückt eine Hundertschaft an, um eine Stunde später wieder abzuziehen. 48 Stunden vorher hatten Menschen an der gleichen Stelle noch um den Wald geweint.
Der Aachener Waldpädagoge Michael Zobel, der bei Waldspaziergängen mehr als 10.000 Menschen durch den Forst geführt hat, ist noch am frühen Abend nach Hambach geeilt: „Das muss gefeiert werden. Ich bin völlig euphorisiert. Ich habe immer an das Wunder geglaubt. Vielleicht ist das wirklich endlich der Wendepunkt.“
Ein Fall für Besetzer – und Juristen
Juristisch ist der Hambacher Forst schon seit Langem ein Thema. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hatte vor dem Verwaltungsgericht Köln wegen Missachtung europäischen Umweltrechts bei den Genehmigungsverfahren geklagt. Das Verfahren wurde im Oktober zunächst vertagt. Gut so, sagten sich die Besetzer, die Rodung musste warten. Vergangene Woche Dienstag schlug der Richter einen Vergleich vor: RWE solle, da die Braunkohleverstromung mittlerweile auch politisch bis ins tiefste Berliner Zirkel debattiert werde, die Sägen ruhen lassen, um keine Fakten zu schaffen, wenn morgen die ersten Braunkohlekraftwerke abgeschaltet werden. Und stattdessen erst mal weiter fördern, ohne weiter zu holzen.
RWE lehnte ab: technisch nicht machbar. Dennoch war die Hoffnung im Wald nach dem Vergleichsvorschlag fast euphorisch. Umso ernüchternder der Freitag: Man könne nicht anders, entschied das Gericht, als grünes Licht zu geben: keine Verfahrensfehler. Der BUND legte noch im Gerichtssaal Revision ein. Am Dienstag griff der Antrag auf einstweilige Anordnung.
Am Mittwoch hat sich die Polizei ganz zurückgezogen. Am Donnerstag will sich der Düsseldorfer Landtag auf Antrag der Grünen in einer aktuellen Stunde mit dem Thema Hambacher Forst beschäftigen. Am Mittwoch appellierte der NRW-Landesvorsitzende des BUND, Holger Sticht, an Ministerpräsident Armin Laschet (CDU, Aachen), zwischen den Parteien zu vermitteln: „Er hat die Chance, ein Zeichen der Deeskalation zu senden.“ Gemeint ist ein freiwiliger Rodungsverzicht, wie vom Kölner Gericht vorgeschlagen. Bislang schweigt Laschet eisern zum massiven Unfrieden in seinem Land.
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