Redaktionen fahren in die Provinz: Wie wäre es mit Lokaljournalismus?

Vor der Wahl starten einige Redaktionen Sonderprojekte. Sie wollen mit echten Menschen über echte Probleme reden. Wem bringt das was?

Bei Dämmerung läuft eine Lichtspur über eine Landstraße.

Wo sind die Geschichten? Eine Landstraße in Mecklenburg Foto: imago/Westend61

Die Sonderanstrengung hat viele Synonyme. Sie kann schlicht ein Sonderprojekt sein, eine Arbeitsgruppe oder auch eine Taskforce. Jochen Wegner bedient sich aber einer anderen Wortschöpfung, die modern und klug zugleich klingt, so wie das eben sein Stil ist: Der Journalist spricht von einem „Pop-up-Ressort“.

Wegner ist Chefredakteur von Zeit Online. Als Google Anfang August zur „frühesten Wahlparty des Jahres“ in sein Berliner Lobbybüro geladen hat, hält er einen Vortrag und erzählt von „#D17“. Wegner ist dabei immer noch erstaunt, denn: Seine JournalistInnen schreiben eigentlich nur darüber, was in ihrer eigenen Heimat los ist. Die „größte Innovation, die wir in diesem Jahr hatten“, wie der Chefredakteur sein Projekt einordnet, ist nichts anders als: klassischer Lokaljournalismus.

„Wir hatten befürchtet, dass wir Deutschland gar nicht verstehen“, erklärt Wegner. Er spricht von erschreckenden Wahlergebnissen in den USA, verblüfften US-KollegInnen, die ihr Publikum anders eingeschätzt hätten, und der Sorge hiesiger JournalistInnen, dass ihnen Ähnliches blühen könnte. Auch das Buzz-Wort „Filterblase“ fällt natürlich.

Nach Hause

Für „#D17“ werden Zeit-Online-RedakteurInnen zu „HeimatreporterInnen“ und schauen sich um, wo sie aufgewachsen sind. Eine Redakteurin des Investigativteams besuchte etwa ein Freibad im hessischen Oberscheld, das wie viele schließen sollte – und entdeckte, dass „eine Gruppe Rentner besorgte, was der Kommune fehlte: Geld, Ideen, Ausdauer, gute Pommes“. Mit dieser Geschichte machte Zeit Online seine Seite auf – sie stand also dort, wo sonst Schlagzeilen mit Trump & Co. auf Klicks warten.

Eine Wirtschaftsredakteurin beobachtete für das Projekt im rheinland-pfälzischen Nierstein, „was überall in Deutschland geschieht: Das Ortszentrum stirbt – und am Stadtrand wachsen die Gewerbegebiete“. Eine der meistgelesenen Geschichten auf Zeit Online überhaupt porträtiert einen Sachsen Mitte 30, der noch nie eine Freundin hatte – auch weil es Frauen aus vielen ostdeutschen Dörfern früh in die Ferne zieht.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

„Wir tun einfach so, als wären wir gerade eingewandert, und versuchen jetzt uns zu erklären, wie Deutschland funktioniert“, sagt Wegner. Im Wahljahr zieht es JournalistInnen aus gefühlt allen Redaktionen weg von ihren Schreibtischen und distanzierten Agenturmeldungen, hin ins echte Leben und den Problemen der Leute.

Als Bild letzten Montag live aus dem Bundeskanzleramt ein Interview mit Angela Merkel streamte, wussten die Boulevard-JournalistInnen: „Bild kennt die Fragen der Bürger“, denn die Redaktion hat einen Bus aus den USA importiert und umgebaut und ist mit ihm nun auf „Deutschland-Tour“: Im „Bild kommt zu Ihnen!“-Modus – den manch einer sicher auch als Drohung interpretieren wird – fahren die JournalistInnen insgesamt 5.000 Kilometer durch die Republik, um auf insgesamt 65 Marktplätzen aufzuschlagen. Das große Versprechen: „Wir wollen wissen, was los ist!“

Für die Aktion taz.meinland touren auch taz-ReporterInnen durch Deutschland. Und auch der Autor dieser Zeilen war unterwegs: Für den NDR und gemeinsam mit einem Kollegen des RBB hat er sich gerade vier Wochen die Situation der Pressefreiheit in Südosteuropa angesehen, statt nur vom Schreibtisch aus über die Bewegungen auf der Liste der Reporter ohne Grenzen zu berichten oder heimische Experten zu befragen.

Wirklich bemerkenswert ist allerdings, wie systematisch RTL seine JournalistInnen auf Tuchfühlung mit der Außenwelt bringt. Vor zwei Jahren begann der Kölner Sender damit, Wohnungen für seine Mitarbeiter anzumieten – zunächst eine in Duisburg-Aldenrade, danach eine in einem Chemnitzer Plattenbau und immer zwei Zimmer voll mit Möbeln aus dem Discounter. „Wenn uns interessiert, was die Menschen wollen, dann reicht es eben nicht, wenn wir durch die Kölner Alt- und Südstadt gehen“, erklärte Chefredakteur Michael Wulf auf den Medientagen in Leipzig und erzählte: „Ich bin gerade durch Bitterfeld durchgefahren. Ich glaube kaum, dass auch nur einer unserer Journalisten da je hinkommt!“

RTL-Chefredakteur Michael Wulf

„Ich bin gerade durch Bitterfeld durchgefahren. Ich glaube kaum, dass auch nur einer unserer Journalisten da je hinkommt!“

Die Mitarbeiter sollen sich fernab ihrer gewohnten Pfade unter die Leute mischen – in den benachbarten Kneipen und Sportvereinen. Vor allem aber sollen sie Menschen in ihre Durchschnitts-zweiraumwohnung einladen, mit ihnen das Programm schauen, es kritisieren und über die eigenen Nöte und Sorgen reden.

Für die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs hat RTL, das sonst eher für sein „Sommerhaus der Stars“ bekannt ist und dort den „Kampf der Promipaare“ inszeniert, eine WG im niedersächsischen Rinteln gemietet, das vor allem eines sei: statistischer Durchschnitt bei Beschäftigungsquote und Migration. Die gut 26.000 Einwohner leben nun vorübergehend in der offiziellen „RTL-Wahlstadt“ – ob sie wollen oder nicht.

Der Sender bringt die BürgerInnen dann auch ins Programm: den Schüler, der sich von Politikern wünscht, dass sie sich mehr um Jugendliche kümmern. Die selbstständige Kosmetikerin, die vor lauter Fixkosten kaum leben kann. Das Rentnerpaar, das auf die Tafel angewiesen ist. „Die Stimmen aus Rinteln sollen ab jetzt Gehör finden – stellvertretend für alle Bürger in Deutschland“, heißt es in einem Werbeclip.

Bürgermeister Thomas Priemer (SPD) hat nun ein Foto von sich mit RTL-Anchor Peter Kloep­pel, das er sich neben den Schreibtisch hängen kann. Der Kommunalpolitiker schwärmt von der Kooperation: „Wir haben damit die Möglichkeit erhalten, uns vor einem Millionenpublikum präsentieren zu können.“

Marketing

RTL-Chefredakteur Wulf sind solche Aktionen wichtig. JournalistInnen sollten „nicht nur die ersten drei Treffer bei Google ansehen, sondern rausgehen, mit den Menschen in Kontakt kommen und so auch eine Haltung zu einem Thema entwickeln“, sagte er auf den Medientagen. „Wie soll man sonst eine Haltung entwickeln?“

Natürlich steckt in all diesen Aktionen auch irgendwie ein bisschen Marketing und damit Inszenierung. Bild geht es beispielsweise erklärtermaßen auch um Präsenz, und der Bus gleicht einem fahrenden Werbeplakat. Gleichzeitig zeigt sich in diesem Jahr so stark wie nie, dass JournalistInnen das Bedürfnis haben, mit ihrem Publikum in Kontakt zu treten, und das nicht bloß in den digitalen Kommentarspalten.

Zeit Online hat sein Projekt sogar ergänzt um „Deutschland spricht“ und gezielt Bürger mit unterschiedlichen politischen Meinungen ganz real an einen Tisch gebracht – deutschlandweit bereits hunderte Male. Das hat sich offensichtlich her­umgesprochen. Jedenfalls erzählt Jochen Wegner, dass sich ein Vertreter der argentinischen Regierung gemeldet habe. Man plane ein „Argentinien spricht“ – und wolle sich dafür mit den deutschen JournalistInnen austauschen.

Und auch das „Pop-up-Ressort“ von Zeit Online, diese „Innovation“ Lokaljournalismus, dürfte bleiben: „Eigentlich wollten wir das nach der Wahl wieder einstellen“, sagt Wegner in seinem Berliner Vortrag. „Das wird es jetzt wahrscheinlich aber nicht mehr.“

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