Ulrike Guérot über Pulse of Europe: „Eine Art bürgerliches Kaffeetrinken“
Bei Sonnenschein mit Luftballons für die EU zu demonstrieren sei schön und gut, sagt Ulrike Guérot. Doch der Bewegung fehlten konkrete Ziele.
taz: Frau Guérot, ist das reine Bekenntnis zu Europa die richtige Antwort auf die Krise der Europäischen Union?
Ulrike Guérot: Das emotionale Bekenntnis von „Pulse of Europe“ ist sehr viel wert. Ich finde es großartig, dass die Deutschen endlich mal für Europa auf die Straße gehen, dass viele intuitiv verstanden haben, dass etwas passieren muss und dass Deutschland nicht ohne Europa kann. Und doch stellt sich die Frage: Was machen wir jetzt damit?
Die Menschen, die jede Woche auf die Straße gehen, scheint nicht zu stören, dass diese Frage noch nicht beantwortet ist.
Das stimmt. Das ist so eine Art bürgerliches Kaffeetrinken geworden, was da gerade passiert. Man stellt sich bei schönem Wetter auf den Berliner Gendarmenmarkt, es ist freundlich und gemütlich, die Leute haben ihre Kinder dabei, blau-gelbe Luftballons schweben über allem. Das ist das traditionelle Bildungsbürgertum, das ein Zeichen setzen will, weil es durch die akute Gefahr des Rechtspopulismus – Ungarn, Polen, Österreich, die Niederlande, Frankreich – jetzt aufgewacht und ernsthaft besorgt ist.
Ist es insofern ganz gut, auf Sichtbarkeit zu setzen und dieser Sorge entgegenzutreten?
In einem ersten Schritt sicher. Zivilgesellschaft hat mediale Macht. Wenn Politiker unter Druck kommen, weil Pulse of Europe sagt, wir wollen mehr Europa, dann ist es etwa auch für Herrn Kauder oder Herrn Schäuble nicht mehr so einfach zu sagen, Europa ist zu komplex, die Leute wollen das nicht. Trotzdem muss man sich jetzt eben überlegen, wie die Energie dieser Bewegung kanalisiert werden kann, wie ein Signal an die Politik als Ganzes gesendet werden kann.
Wie könnte so ein Signal aussehen?
Zunächst hat Pulse zu Recht ein großes Interesse daran, die Bewegung nicht in eine Politisierung für die eine oder andere Partei umzumünzen. Er funktioniert ja genau deshalb, weil er sich nicht rechts oder links, grün oder rot positioniert. Der Charme des derzeitigen Pulse ist das Unpolitische. Es ist leicht, das abzugreifen, und die Hoffnung ist, dass man über Emotion zum Inhalt kommt.
Jahrgang 1964, ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Sie ist Gründerin und Direktorin des „European Democracy Lab“ (EDL) Berlin. Ihr Buch „Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde“ erscheint im Mai im Ullstein Verlag.
Aber der Inhalt ist bisher maximal vage: „Europa darf nicht scheitern“, „Grundrechte sind unantastbar“, „alle können mitmachen“…
Sobald Ziele konkretisiert werden, besteht immer das Risiko, dass sich eine Bewegung spaltet. Das Problem ist nur, dass ich davon überzeugt bin, dass die EU, wie sie derzeit aufgestellt ist, nicht mehr lange Bestand haben wird. Sie ist in der Flüchtlingsfrage nicht handlungsfähig, die Eurokrise ist nicht gelöst, die Schuldenfrage ist offen. Wenn jetzt keine klaren Forderungen formuliert werden, fürchte ich, dass die zersetzenden Kräfte sehr stark sind. Die Frage ist natürlich, welche Verantwortung Pulse da überhaupt haben kann. Aber wenn die Bewegung keinen inhaltlichen Akzent setzt, wäre auch mit ihr nichts gewonnen.
Sie haben kürzlich vorgeschlagen, sich auf nur eine Forderung zu konzentrieren: die nach Wahlrechtsgleichheit. Wieso genau die?
Was ich fordere, ist bierdeckeltauglich: den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürger, gleiches Recht für alle. Das ist eine normative Forderung, der sich alle Parteien anschließen könnten und müssten, wenn sie wirklich Europa wollten. Es gibt also keine parteipolitische Bindung, aber großes Potenzial für die institutionelle Fortentwicklung der EU. Wenn wir noch die Absicht haben, auf diesem Kontinent ein politisches Projekt zu begründen, dann kann das nur funktionieren, wenn alle Bürger vor dem Recht gleich sind.
Momentan ist Pulse of Europe sehr stark in Deutschland, von wo es auch ausging, dagegen kaum oder gar nicht präsent in Spanien, Portugal, Griechenland oder Italien. Ist das eine Bewegung für ein deutsches Europa?
Diese Schere zeigt: In Deutschland ist Europa nicht von den Bürgern verraten worden, sondern von der nationalen Elite. Was genau passiert ist, welche Mitverantwortung Deutschland an der Krise trägt, das haben die meisten Bürger hierzulande nicht mitbekommen.
Sie hätten Zeitung lesen können.
Es gab eine richtige Dunstglocke der Presse, eine Deutungshoheit, die einem normal informierten deutschen Publikum hat suggerieren können: Wir machen das ganz toll – und wenn die anderen das machen wie wir, schaffen die das auch. Nur leider sind die nicht so toll. Darüber, was wirklich passiert ist, haben die FAZ oder die Bild doch nicht berichtet. Und jetzt auf einmal kommt aus der deutschen Zivilgesellschaft heraus dieses Moment für Europa. Natürlich verstehen das die Menschen in den europäischen Nachbarländern nicht unbedingt. Die fühlten sich verraten von Europa und konnten nicht sehen, dass es einen Unterschied zwischen den deutschen Bürgern und der Politik gibt. Und was die deutschen Bürger machen, ist ja gerade das, was die deutschen Politiker nicht gemacht haben: Sie strecken den anderen Europäern die Hand zur Versöhnung aus.
Da kommen die Verursacher und Krisenprofiteure und sagen, war nicht so gemeint? Das stelle ich mir schwierig vor.
Da bin ich bei Ihnen.
Zudem kommen im Europabild von Pulse weder Austeritätspolitik noch europäisches Grenzregime noch Intransparenz …
… noch Ceta, Wallonie oder die deutsche Rolle in den vergangenen Jahren vor. Pulse of Europe hat derzeit noch nicht einmal das Spannungsverhältnis zwischen der EU und Europa verstanden. Für welches von beidem sind die Leute? Ich würde sagen, erst mal vage für Europa, weil sie im Zweifel die Details der EU gar nicht kennen. Aber haben sie auch verstanden, dass und an welchen Stellen die EU dringend reformiert werden muss? Ich glaube nicht.
Leistet eine so kritiklose Europabegeisterung nicht dem Neoliberalismus Vorschub?
Genau an den Punkt kommt Pulse of Europe doch jetzt, genau das müssen sie doch langsam merken. Bisher verteidigen die TeilnehmerInnen die EU, ohne zu wissen, was wirklich kritisiert gehört. Darin liegt auch das Risiko: Wenn sie das nicht merken, gebe ich ihnen keine Chance. Dann kann auch im Ausland nicht erkannt werden, was die Deutschen wollen – dass es nicht darum gehen kann, dass das deutsche Europa einfach weitergeht. Insofern hat Pulse jetzt eine doppelte Aufgabe. Sie müssen erstens politisch formulieren: Europa ja, aber EU nein. Und zweitens müsste man ins Ausland spielen: Wer hier auf die Straße geht, sind die Bürger, die im Zweifelsfall nicht mitbekommen haben, welche Verantwortung Deutschland an der Krise hat, welches Missmanagement stattgefunden hat. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe.
Haben Sie darüber mit den OrganisatorInnen gesprochen?
Ich habe den Gründer Daniel Röder in Frankfurt kennengelernt. Wir haben telefoniert und gemailt und ganz vage darüber gesprochen, wie es weitergehen könnte.
Am Sonntag wurden bei der Kundgebung in Berlin Karteikarten ausgeteilt, auf denen beschrieben werden konnte, wie der Pulse nach den Wahlen in Frankreich weitermachen und wie er in einem Jahr aussehen soll. Auf einem Kongress Ende April wollen die OrganisatorInnen dann intern darüber beraten. Das ist kein sehr basisdemokratischer Ansatz, oder?
Das muss auch nicht sein. Partizipative Elemente sind gut, aber Sie können nicht mit 1.000 Leuten, die auf dem Boden sitzen, eine neue europäische Verfassung schreiben. Repräsentation ist nötig.
Dann würde die Bewegung Ihrer Ansicht nach viel organisierter werden müssen?
Die Frage ist ja, was sie machen, wenn sie sich Ende des Monats auf dem Kongress treffen. Gründen die einen Verein, oder vielleicht eine Partei? Oder gründen sie wie Yannis Varoufakis, der ehemalige Finanzminister von Griechenland, eine Bewegung …
… DiEM25, die basisdemokratisch und stärker inhaltlich arbeitet als Pulse of Europe, aber deutlich weniger sichtbar ist.
In der Tat ist Pulse noch viel unpolitischer als DiEM25. Die großen inhaltlichen Vorschläge fehlen da aber auch noch. Die beste inhaltliche Arbeit in dem Bereich macht im Moment der französische Ökonom Thomas Piketty. Er hat das „Kapital im 21. Jahrhundert“ geschrieben und hat interessante Vorschläge zur institutionellen Neugestaltung der Eurozone vorgelegt. Aber das Problem ist ja gerade, dass alle so vor sich hin wurschteln. Es wäre schön, wenn man sich auch untereinander austauschen würde, Varoufakis mit Piketty, der vielleicht mit Pulse. Es wäre wirklich wunderbar, wenn dieses ganze kreative Nachdenken gebündelt werden könnte in ein paar strukturelle Reformvorschläge für die EU.
Sehen Sie Pulse of Europe innerhalb dieser Szene?
Ich bezweifle, dass er in eine so konkrete inhaltliche Ausarbeitung will. Das wäre mir an deren Stelle viel zu groß. Aber natürlich entsteht öffentlicher Druck, nach dem Motto: Kommt da irgendwann mal was Präzises? Die zehn Punkte, die sie haben, reichen auf Dauer eben nicht.
Und wenn die Bewegung es nicht schafft, sich weiterzuentwickeln?
Ich würde mir wünschen, dass sie es schafft. Mal angenommen, Macron gewinnt in Frankreich, dann sind Sommerferien, und danach geht im September bei den deutschen Wahlen alles gut. Wenn Pulse of Europe sich bis dahin nicht weiterentwickelt hat, wird die Bewegung nicht überleben.
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