Missbrauchsvorwürfe Jacob Appelbaum: Tage der Abrechnung
Jahrelang feierte die Hackerszene Jacob Appelbaum als Helden. Nun gibt es schwerwiegende Vorwürfe und viele offene Rechnungen.
Langsam kann dort eine Ahnung davon entstehen, was in dieser Welt, der Hackerwelt, von Bedeutung ist. Die Befreiung vor allem, ganz allgemein, und die Selbstermächtigung; und dann, konkreter, die dunklen, teils dunkel geschminkten Augenränder, die Technikparties und manchmal auch Sexparties und natürlich die Prüfsummenalgorithmen, vor allem diese.
Und dann ist es auch gut, wieder hinauszutreten aus diesem Wahnsinn. Glücklich, wem das gelingt, bevor wieder alle Grenzen verschwimmen. Es gerät in dieser Welt viel zu oft viel zu viel durcheinander. Dabei ist es doch eigentlich so einfach: Eine Prüfsumme ist ein Wert, mit dem die Integrität von Daten ermittelt werden kann. Es wäre derzeit ganz sinnvoll, wenn die aufgebrachte globale Technik-, Hacker- und Nerdgemeinschaft sich wieder ein wenig auf ihre einfachsten Einsichten besinnen würde.
Seit gut einer Woche ist der Kampf gegen Jacob Appelbaum eröffnet, zumindest nach allem, was öffentlich zu beobachten ist. Hinter den Kulissen, in privaten Treffen, in verschlüsselten Emails und Chats, wird der Kampf gegen diesen Mann bereits seit über einem Jahr geführt. Die Gründe dafür sind gewichtig: Jacob Appelbaum, eine der Führungsfiguren der globalen Antiüberwachungsbewegung, soll wiederholt, so lauten die meist anonym vorgebrachten Vorwürfe, die Grenzen anderer überschritten haben, teils verbal und teils auch sexuell.
Einer der profiliertesten Sprecher der Szene
Für die weltweit mächtigsten Organisationen des digitalen Widerstands ist dies ein herber Schlag. Appelbaum ist einer der profiliertesten Sprecher der Szene. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Veröffentlichung der Snowden-Dokumente, enthüllte die Ausspähaffäre rund um das Handy von Angela Merkel, verfügt über engste Kontakte in den inneren Zirkel von Wikileaks und war das Aushängeschild des sogenannten Tor-Netzwerkes.
Das ist ein Zusammenschluss von Entwicklerinnen und Entwicklern, die eine Anonymisierungssoftware betreiben und so das überwachungslose Surfen und Kommunizieren im Internet ermöglichen wollen, eines der bedeutendsten Hackernetzwerke der Welt. Am 25. Mai hat Appelbaum seinen sehr gut bezahlten Job dort niedergelegt, der Druck auf ihn wurde zu groß. Er ist einem Rauswurf damit zuvor gekommen.
Seitdem ist die Gemengelage kompliziert und, wie es in der Szene bei Konflikten üblich ist, unübersichtlich, marktschreierisch und hysterisch. Das liegt vor allem daran, dass die Vorwürfe, die gegen Jacob Appelbaum zuvor nicht- oder nur halböffentlich ins Feld geführt worden waren, nicht vor einer Polizei oder Justiz zur Sprache kommen sollen, sondern dass sie in der staatskritischen Netzgemeinde wie auf einem Marktplatz nun öffentlich verhandelt und verstärkt, diskutiert und widerlegt werden bis am Ende alle Beteiligten ihren Schaden davon getragen haben.
Es ist ein Kampf um die letzte Wahrheit eines bis gestern noch gefeierten Helden: Ist Jacob Appelbaum ein Rockstar mit Macken? Ist er ein Arschloch und Grenzgänger? Oder ist er gar, was einige Menschen nun meist anonym behaupten, ein Vergewaltiger? Über all dies wird derzeit öffentlich verhandelt.
„Ein Vergewaltiger wohnt hier“
Wie valide die Vorwürfe, von denen die schwersten kaum zu überprüfen sind, auch immer sein mögen: Die Form ihrer Präsentation und ihr Umgang mit ihnen steht einer Rufmordkampagne in wenig nach. Es ist, im Gegenteil, das erklärte Ziel dieser Kampagne, den einstigen Helden auszugrenzen oder, wie ein Hackerkollektiv, in dem Appelbaum bis zuletzt Mitglied war, schrieb: „Wir haben ihn von der Herde getrennt.“ An dem Wohnhaus, in dem Appelbaum bis zuletzt in Berlin wohnte, prangt heute ein Graffiti. Dort steht auf deutsch und auf englisch zu lesen: „Ein Vergewaltiger wohnt hier“.
Einige Tage ist es nun her, dass eine Homepage veröffentlicht wurde, die zwar auf Jacob Appelbaums eigenen Namen lautet, aber von seinen ärgsten Feinden betrieben wird. Darauf klagen überwiegend anonyme Personen ihn öffentlich an. Unbekannte schildern dort ihre Erfahrungen mit Jacob Appelbaum. Sie zeichnen das Bild eines manipulativen Aktivisten, der gezielt und immer wieder auch die körperlichen und sexuellen Grenzen anderer ignoriert. In der feministischen Szene wird diese Webseite verteidigt: Wie sonst, fragen FrauenrechtsaktivistInnen, soll dem Treiben von Peinigern ein Ende bereitet werden, wenn doch statistisch erwiesen ist, dass der juristische Weg den Opfern in solchen Fällen kaum etwas nützt?
Allerdings: Nicht nur die aufgemotzte Homepage zeugt von Unsachlichkeit – auch inhaltliche Einlassungen, die gegen Appelbaum vorgebracht wurden, mussten inzwischen relativiert oder gänzlich zurückgezogen werden. Das muss nicht heißen, dass andere Vorwürfe falsch sind. Doch es zeigt an, auf welche Weise die sogenannte „Community“ mit sich selbst ins Gericht geht; und wie grenzüberschreitend dies wiederum geschieht.
CCC-Congress in Hamburg
In einem der wenigen Fälle, in denen die Ankläger nicht anonym auftraten, skizzierten sie eine Szene, in der Appelbaum am Rande des Hamburger Jahreskongresses des Chaos Computer Clubs öffentlich eine Frau gegen ihren Willen begrapscht haben soll. Weil diejenigen, die diese Vorwürfe vorbrachten, sogar namentlich in Erscheinung traten, galten sie rasch als Kronzeugen. Allein: Mit der Frau, die vermeintlich bedrängt worden war, hatten die Ankläger gar nicht geredet. Sie steht noch heute in engem Verhältnis zu Appelbaum und konnte es kaum fassen, als sie nun selbst über sich lesen musste.
Und so erschien dann ein weiterer Text im Internet, indem diese Frau die Dinge aus ihrer eigenen Perspektive schildert: Dass es aus ihrer Sicht in jener Nacht in der Lobby des Hamburger Radisson Blu-Hotels überhaupt kein Problem mit Appelbaum gab. Nun wollte sie wissen, was denn das Problem der anderen sei – und warum überhaupt fremde Leute in ihrem Namen Anklage führten? Auch andere seiner engen Freundinnen und Ex-Freundinnen verteidigen Appelbaum vehement. Heißt das, dass an den Vorwürfen nichts dran ist? Nein. Das heißt erstmal alles gar nichts, weder in die eine, noch in die andere Richtung.
Als Fakt kann genommen werden, dass die Szene schon lange über den Umgang mit dem von vielen als brilliant, gewinnend und pointiert, aber auch als eitel, geltungsbedürftig und grenzüberschreitend wahrgenommenen Appelbaum diskutiert. Bereits im März 2015 wurde er für 10 Arbeitstage von seiner Arbeit im Tor-Netzwerk suspendiert, nachdem er gesagt haben soll, seine sexuelle Rekrutierungsstrategie sei erfolgreich. So berichtet es das Onlineportal Golem.de.
Appelbaum hat viele Feinde
Und so kann es nicht wirklich überraschen, dass die Szene jetzt durchdreht, nachdem sie über Monate und Jahre keinen Weg gefunden hat, auf angemessene Weise mit Vorwürfen und Ahnungen, ob begründet oder nicht, angemessen umzugehen. Jacob Appelbaum hat dazu einen großen Teil beigetragen. Dass die Gruppe derjenigen, die ihn heute noch verteidigen, übersichtlich ist, hat auch damit zu tun, dass er sich – kompromisslos, hart im Urteil, dränglerisch – viele Feinde gemacht hat.
Und dann ist da noch dieser Aspekt: Seine Reden sind groß, seine Auftritte fulminant, er kann Säle beherrschen, auch wenn er nicht auf der Bühne sitzt. Und wenn er dann, bejubelt und beklatscht, abends in einer dieser fremden Bars landete, oft auch umringt von Groupies und Fanboys, dann ging es anschließend häufig noch auf ein Zimmer. Warum auch nicht? Gemeinsam mit anderen, mal wenigen, mal vielen, mal Frauen, mal Männern, aber doch auf eine Art, die auch Außenstehenden anzeigte: Da macht sich einer, der ohne Zweifel mit der NSA einen der mächtigsten Gegner der Welt hat, sehr angreifbar. Unabhängig davon, was dann in diesen Zimmern geschah: Es war nur eine Frage der Zeit, bis das System Appelbaum Error melden musste.
Es gibt Leute, die heute sagen, sie hätten bestimmte Parties gemieden, weil sie nicht die Typen für Sexparties seien. Andere merkten zu spät, wo sie hineingerieten, aber blieben. Und viele feierten dort einfach fröhlich. Und dann passierte dies und dann passierte das und plötzlich war da diese umdrogte Wirre, jener Moment, in dem Grenzen wieder verschwimmen, in der ein Nein vielleicht nicht mehr Nein heißt, sondern? Ja, was denn eigentlich sonst? Das ist die Szenerie, in der die meisten Vorwürfe, die heute in der Welt sind, geboren wurden.
Gerechtigkeit herstellen – aber wie?
Nicht alles, was mit dem Gestus des Coolen und Libertären einhergeht, ist, das ist vielleicht eine der Lehren aus diesem Stück, auch immer gleich cool und libertär. Und wenn dann all diese Grenzen wieder einmal verschwimmen, dann tragen womöglich all jene ihren Teil, die daran mitgewirkt haben. Aber vor allem nun einmal der, der die Grenze der anderen selbst überschritten hat. Das gilt für Rockstars mit Macken, für Arschlöcher und das gilt auch für Peiniger. Und es gilt heute ganz genauso für all jene, die meinen, Gerechtigkeit ließe sich herstellen, in einem Meer von unwidersprechbaren Anwürfen, in dem es nicht mehr wichtig zu sein scheint, ob die Integrität dieser Daten überhaupt noch ermittelt werden kann.
In einem Rechtsstaat gilt in der Regel: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“ Das ist zwar nicht besonders revolutionär, aber es ist auch nicht alles schlecht, was gesetzlich geregelt ist. Und deshalb ist es manchmal gut, aus diesem Wahnsinn, aus jener Welt herauszutreten, in der die Selbstermächtigung der einen zur Unterdrückung der enderen führt. Glücklich, wem das gelingt, bevor wieder alles so wild durcheinandergeht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies