Theaterfestival in Braunschweig: Der Tanz der Geister
Welche Mythen erzeugt das Verschweigen? Produktionen aus Südostasien erzählen von Auseinandersetzungen über Geschichtsbilder.
Sie ist zierlich und erstaunlich beweglich, das hat man schon gesehen, als Ae Soon Lee ihre täglichen Yoga-Übungen in einer Kurzfassung vorführte. Jetzt ist sie in die Hocke gegangen und kehrt die Bühne mit einer Ruhe, als wäre dies tatsächlich ihr Haus in Seoul und nicht eine Bühne, 8.300 Kilometer entfernt in einer deutschen Stadt, in der über 100 Augenpaare ihr beim Kehren zuschauen. Die Haltung der 75-jährigen Dame nötigt uns Respekt ab. Viel aus ihrem Leben haben wir schon von drei jungen SchauspielerInnen erzählt bekommen, bevor sie selbst die Bühne betritt.
Ae Soon Lee ist die ehemalige Kinderfrau des Regisseurs Kyung Sung Lee, 1983 geboren. Mit seiner Theatergruppe Creative VaQi und dem Stück „The Conversations“ ist er aus Seoul zum Festival Theaterformen nach Braunschweig gekommen. Tante Ae Soon, wie der Regisseur sie nennt, ist als Waise aufgewachsen in der Zeit des Krieges zwischen Nord- und Südkorea von 1950 bis 1953, und sie musste früh für den eigenen Lebensunterhalt arbeiten.
Lesen und Schreiben hat sie sich selbst beigebracht und später weiter gearbeitet, für das Schulgeld der eigenen Kinder zunächst und dann aus Lust an der Selbständigkeit. Man sieht die Mühe, die ihr die Schriftzeichen noch heute machen, und spürt doch auch in ihren einfachen Sätzen ihre Zufriedenheit, über die Kinder, das eigene Häuschen, die Gesundheit.
Filme erzählen manchmal aus so großer Nähe die Geschichte eines Lebens, aber für die Bühne ist ein solches Porträtformat ungewöhnlich. Es verbindet eine vertrauensvolle Nähe mit einer kritischen Distanz. Sieht so wie Ae Soons Leben das Glück aus?
Das fragen sich die jungen SchauspielerInnen. Wenn sie teilweise in die Rolle der alten Dame schlüpfen, verrät schon ihre Körpersprache, dass sie mehr und anderes wollen. Vor allem aber bleiben die vielen Dinge, über die Ae Soon nicht mit ihnen redet, wie die Politik, das Leben in einer Militärdiktatur. Park Chung Hee war für sie der Präsident, der wirtschaftlichen Aufschwung brachte, Autobahnen und U-Bahnen baute, und wie viele Arbeiter dabei starben, spielt in ihrer Erinnerung keine Rolle.
Propaganda und Biografie
Die Zweifel der Jüngeren am Lebenskonzept dieser Frau erscheinen nur als Übertitel, während alle stumm den Reis essen, den die „Tante“ gekocht hat. So frei von Aggressionen, so um Verständnis und Offenheit bemüht, wird selten von einem Generationenkonflikt erzählt.
Für das Festival Theaterformen, das alternierend in Braunschweig und Hannover stattfindet, hat die künstlerische Leiterin Martine Dennewald diesmal mit Produktionen aus Seoul, Singapur, Tokio und Bangkok einen starken Schwerpunkt geschaffen. Die Einführungen zu den Stücken, Texte im Programmheft zu den historischen Entwicklungen etwa von Korea, Malaysia und Singapur, glichen oft einem politischen Crash-Kurs, der immer wieder bewusst machte, wie wenig man oft von der Geschichte Südostasiens weiß. Fast alle der jungen Theatermacher gehören einer Generation an, die Fragen an die eigene Geschichte, die Konstruktion nationaler Identität und die Geschichtsschreibung hat.
Bis 19. Juni, Programm unter www.theaterformen.de
Woran wird erinnert und woran nicht? Welche Mythen und welche Dämonen erzeugt das Verschweigen? Das ist eine zerklüftete Landschaft, an der die kolonialen Mächte aus Japan und dem Westen einen nicht unerheblichen Anteil haben. Die Sprache der Propaganda auf der einen Seite, biografische Befragung auf der anderen, zwischen diesen Polen bewegten sich neben „The Conversations“ auch die Stücke von Toshiki Okada aus Tokio und Mark Teh aus Kuala Lumpur.
Doch so komplex auch der historische Kontext ist, die Aufführungen selbst ermöglichten mit ihren entschiedenen Theatersprachen meist einen Zugang, auch ohne tief in der Materie zu stecken. Mark Teh zum Beispiel macht ein Dokumentar-Theater der klaren Ansagen, der Quellenforschung, der Fragen an das Material. Sein Stück „Baling“ beruht auf Protokollen von 1955, als Vertreter der britischen Kolonialmacht mit kommunistischen Widerstandskämpfern, die sich in Malaysia im Dschungel verborgen hielten, in dem Dorf Baling verhandelten und sie zur Aufgabe bringen wollten.
Kritik als kommunistisch diffamiert
Die nüchterne Form erinnert an Theaterformen von Milo Rau und die Darsteller, darunter Fahmi Fadzil, Politiker der Oppositionspartei „People Justice Party“, legen offen, welches Interesse sie leitet. Warum, fragt Fahmi Fadzil etwa, wird Kritik noch immer so schnell als kommunistisch diffamiert und Kommunismus mit Terrorismus gleichgesetzt? „Baling“ ist eine spannende, wenn auch oft anstrengende Erzählung über Prozesse der kollektiven Verdrängung auf dem Weg zu einer nationalen Identität.
Einer ähnlichen Spur folgt „Ten Thousand Tigers“ von Ho Tzu Nyen aus Singapur, aber mit gänzlich anderen Mitteln. Er hatte im Braunschweiger Staatstheater eine Wand aus Bildkästen aufgebaut, die einem dreiteiligen Altar glich. Visuell zitierte er eine anachronistische Ästhetik, museale Formen aus der Zeit des Kolonialismus wie Dioramen, jetzt allerdings sind Schauspieler in die Kästen gesperrt.
Stimmen kommen von Tonbändern, ein Radiomoderator muss sich in einem Kasten aufhalten, ein Krieger in einem anderen, Videofenster dazwischengestreut. In dieser Multimedia-Wand laufen Erzählungen ineinander, politische Geschichte und Legenden. Es geht um die Tiger und ihre Kraft der Verwandlung in Menschen und Geister, und es geht um den Guerillakrieg der malaiischen Kommunisten gegen die japanische Armee in den vierziger Jahren.
Ho Tzu Nyen bedient sich in Bild und Text einer Sprache, in der sich stets das eine in das andere verwandeln kann. Er lässt einen Tanz der Geister los, der allerdings auch zur Überhöhung neigt, zur Heroisierung des Verborgenen. Und obwohl er vom Prozess der Mythisierung der politischen Geschichte erzählt, fasst er dazu keine Distanz. Mythos und Agitation, Poesie und Propaganda verschmelzen immer mehr. Das wird richtig unheimlich.
Während Regisseure wie Toshiki Okada (siehe taz vom 7. Juni) oder Kyung Sung Lee Mut in der Reduktion ihres Erzählstoffes zeigen, kippte Ho Tzu Nyen eher ein ganzes Arsenal von Bildern aus. Das Übervolle, das Reinquetschen bis zum Anschlag, ist auch ein Mittel der Regisseurin Toco Nikaido, deren Gruppe Miss Revolutionary Idol Berserker aus Tokio keine Mühe scheut, ihr Publikum hochzupuschen. Die 25 Darsteller haben am Ende jedem einzelnen Zuschauer die Hände geschüttelt und sich bei ihm bedankt.
Lichterketten am Leib
Sie tun alles für ihr Publikum und lieben es, sie tanzen und singen, gleich mehrere Songs auf einmal, Projektionen blinken rundum. Sie sind witzig, jung, sexy, Lichterketten blinken um den Leib, sie werfen mit Konfetti, Wasser und Tofu. Worum sich ihre ansteckende Begeisterung eigentlich dreht, vermag man hinterher kaum zu sagen. Am Irrsinn des Fantums arbeitet sich die Gruppe ab, aber an die Stelle des geliebten Stars rückt irritierenderweise das Publikum selbst. Und taumelt am Ende etwas benommen durch die nachts leeren Fußgängerzonen in Braunschweig.
Dass man bei der Popkultur einsteigen und bei Strukturen der Macht herauskommen kann, zeigte der junge Regisseur und Choreograf Thanapol Virulhakul aus Bangkok. „Hipster The King“ heißt sein Stück. Vor jeder Theatervorstellung, vor jedem Kinofilm läuft in Thailand die Nationalhymne, zu der man aufstehen muss, erzählte Virulhakul, bei einem Festivalfrühstück. Aufzustehen und zu applaudieren, dazu fordern in seinem Stück, in dem die Darsteller stumm und reglos Bilder stellen, die Übertitel auf.
Der dort zu lesende Text, der sich an die Zuschauer richtet, ist suggestiv, flirtet mit ihnen, macht sie augenzwinkernd zu Komplizen. Mal sind es die Darsteller, die ihren Regisseur für ein Arschloch halten und versuchen, das Publikum auf ihre Seite zu ziehen, mal scheint es der Regisseur selbst zu sein, der an die Zuschauer appelliert, sie manipuliert. Ob man darin eine Metapher für das Funktionieren anderer Machtsysteme sieht? Möglich ist es. Die Figuren, die dargestellt werden, sind aus vielen Zitaten zusammengesetzt, die Kostüme gehen weit in die Geschichte zurück.
Immer repräsentieren sie etwas, immer wieder wird ihre Deutung mit neuen Requisiten verschoben und überschrieben. Bis jedes neue Differenzierungsmerkmal im Zeichenstrudel untergeht, zum dekorativen Schnörkel wird.
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