Short Stories aus Singapur: Die Unmöglichkeit des Vergessens

Frauen und Fabelwesen: Amanda Lee Koe ist die erste Repräsentantin einer neuen Literatur aus Singapur. Eine Begegnung in Berlin.

Eine Frau sitzt an einem Tisch und hat ein Stück Kuchen vor sich

Auf den Spuren Benjamins und Wongs? Amanda Lee Koe in der Berliner Konditorei Buchwald Foto: Sebastian Wells

Amanda Lee Koe ist erst vor einer guten Stunde in Berlin gelandet. Nun tritt sie etwas müde, aber frisch geduscht, wie sie lächelnd erzählt, vor die Tür ihres Hotels in Moabit. Wohin mit einer Autorin, die zwischen Singapur und New York pendelt? Der Vorschlag, ein paar Schritte über die Brücke zur Konditorei Buchwald zu gehen, wird für gut befunden.

Im Garten schlüpft Amanda Lee Koe umstandslos aus ihren Schuhen und macht es sich auf ihrem Stuhl bequem. Ich erzähle, dass die Konditorei die älteste Berlins und für ihren Baumkuchen berühmt sei. „Baumkuchen?“, fragt Amanda Lee Koe. „Ich arbeite gerade an einem Roman. Dabei bin ich auf einen Text von Walter Benjamin gestoßen. 1928 hat er die chinesisch-amerikanische Schauspielerin Anna May Wong in einem Café an der Spree getroffen. Sie aßen Baumkuchen. Könnte das hier gewesen sein?“

So könnte es gewesen sein, auch wenn Benjamin die Begegnung mit Wong, die sich damals wegen Dreharbeiten in der Stadt aufhielt, in einem „gastlichen Berliner Haus“ situierte. Den Namen der Gastgeberin gab er nicht preis. Seine Gesprächspartnerin wiederum, die in Los Angeles geboren worden und ebendort aufgewachsen war, orientalisierte Benjamin nach Kräften. Der erste Satz seines in der Literarischen Welt erschienenen Artikels über das Gespräch mit der Schauspielerin lautet: „May Wong – der Name klingt farbig gerändert, markig und leicht wie die winzigen Stäbchen es sind, die in einer Schale Tee sich zu mondvollen duftlosen Blüten entfalten.“

Dann soll es so sein: Amanda Lee Koe repräsentiert an diesem Nachmittag Anna May Wong, ich ergebe mich in die Rolle des europäischen Intellektuellen, der sein exotistisches Begehren nicht ganz im Griff hat. Das sollte zu schaffen sein. Anna bestellt sich Latte Macchiato und Baumkuchen mit Eis. Der Farbe nach könnte es Pistazie sein. Sie wird den Baumkuchen nicht schaffen, Walter wird ihn später aufessen.

Immer schon alt

Amanda Lee Koes Kurzgeschichtensammlung „Ministry of Moral Panic“ erschien 2013 bei Epigram Books in Singapur. Dort wurde das Buch von Publikum und Kritik euphorisch aufgenommen. 2016 kam es in der hervorragenden Übersetzung von Zoé Beck bei Culturbooks auf Deutsch heraus. Die Literaturredaktionen des öffentlich-rechtlichen Radios und Popzeitschriften wie Spex zeigten sich von „Ministerium für öffentliche Erregung“ begeistert. Auch die Jury des Internationalen Literaturpreises, der vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin und der Stiftung Elementarteilchen aus Hamburg am Donnerstag verliehen wurde, hat die Qualität ihrer Geschichten erkannt und sie in diesem Jahr auf die Shortlist gesetzt. Das Feuilleton hingegen (abgesehen von der Neuen Zürcher Zeitung) ignorierte das Buch konsequent.

Ihre Figuren sind grausam, aber auch voller Mitgefühl, und das gilt auch für ihre Erzählerstimmen

Man merkt ihren Erzählungen zwar an, dass sie von einer sehr jungen Autorin geschrieben worden sind. Amanda Lee Koe ist die erste, die das ungefragt konzediert und anmerkt, sie blicke inzwischen mit etwas Abstand auf diese Sammlung. Doch ihre Intelligenz, ihr Humor, ihr stilistisches und erzählerisches Talent sind nicht zu übersehen. Sie habe sich immer schon alt gefühlt, sagt sie, und es gibt wenige Autoren, die mit 23 solche Sätze schreiben: „Vergebung ist nicht so schwer, wie wir glauben wollen, es ist vielmehr die Unmöglichkeit des Vergessens, die Angst macht.“

Ihre Figuren denkt sie radikal als Einzelne

Schon die erste Geschichte des Bandes ist grandios. Ein gealterter Pop-Yé-Yé-Sänger mit einem schwachen Herz besucht seine Jugendliebe am Krankenbett, doch sie erkennt ihn nicht. Langsam entfaltet Koe diese Geschichte eines jungen und mittellosen, wenn auch später erfolgreichen, muslimischen Malayen, der sich in ein chinesisches Mädchen verliebt, aber aufgrund seiner Herkunft chancenlos bleiben muss: Falsche Ethnie, falsche Religion, falsche Klasse. Der Vater des Mädchens findet eine bessere Partie für sie.

Diese Zusammenhänge notiert die Autorin beiläufig, erzählt nur soviel, wie für das Verständnis der Figuren nötig ist. Sie finde es traurig, sagt sie, dass der Kosmopolitismus des zwanzigsten Jahrhunderts in Literatur und Gesellschaft zunehmend einem identitären Denken Platz machen muss. Ihre Figuren denkt sie radikal als Einzelne.

Mit der Distanz einer Chirurgin

Noch viel mehr als die Klischees der anderen, etwa dasjenige vom sauberen Singapur, interessieren Koe daher die Selbstbilder einer multiethnischen, multireligiösen und multilingualen Gesellschaft, deren Literatur aber traditionell von männlichen Protagonisten der chinesischen Mittelklasse als patriarchalen Vorstehern der Kleinfamilie handelt. „Als asiatische Ehefrau lernt man, den Mund zu halten. Der Ehemann hat immer recht“, heißt es in einer ihrer Storys. „Vielleicht ist es jetzt anders, weil die Frauen ebenfalls arbeiten. Ich weiß es nicht – ist es anders?“

„Die höchste Eisenbahn“ könnten mit ihrem Landstreicher-Pop abheben. Bis es soweit ist, tingelt die Band durch die Provinz. Wie lebt es sich auf dem Sprungbrett zum Erfolg? Die taz.am wochenende vom 8./9. Juli war mit auf Tour. Außerdem: Holger Klukas lebt von Hartz IV und ist der wohl ärmste Bürgermeister Deutschlands. Und: Warum Donna Leon niemals Muscheln aus der Lagune in Venedig essen würde. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Amanda Lee Koe blickt mit der Distanz einer Chirurgin auf die Beziehungen zwischen Menschen. Da widmet sich eine todkranke ältere Frau platonisch einer jungen Gesprächspartnerin, führen konservative Damen eine lesbische Beziehung, hat ein Hausmädchen mit dem Hausherren Sex, wird ein junges Mädchen vergewaltigt. Sie ist entehrt, aber die Männer aus dem Dorf haben ihr Verbrechen vermutlich längst vergessen.

Ins Fantastische

Amanda Lee Koes Schreiben lässt sich nicht korrumpieren, ihre Figuren sind grausam, aber auch voller Mitgefühl, und das gilt auch für ihre Erzählerstimmen. Sie schreibe gegen den drögen Realismus der modernen singapurischen Literatur an, sagt sie, und in der Tat besteht das Realistische ihrer Literatur darin, das Vernakuläre gekonnt in ihre Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen ihrer Figuren auch ins Fantastische verlängert.

In „Sirene“ etwa erzählt sie die Geschichte eines Ladyboys namens Marl. Er ist die Frucht einer Verbindung zwischen einer Meerjungfrau und eines stark behaarten Fischers, woraus sich die Eigentümlichkeit seines Geschlechtsorgans erklärt: Es ist ein Schwanz, „mindestens zehn Zentimeter lang, silbergrau, an der gerippten Schwanzspitze mit einem Hauch Gelb, feucht und doch schuppig. Er lässt sich einziehen, dann ist nichts als eine Spalte von außen zu sehen.“ Dieses fast Burroughssianisch anmutende Märchen ist auch eine Satire auf das Wahrzeichen Singapurs, den Merlion, ein Fabelwesen mit dem Kopf eines Löwen und dem Körper eines Fischs.

Kursivieren? Nein.

Erscheinen explizite Sexszenen in Singapur als skandalös? Ja, sagt Amanda, das passe einfach nicht zur autoritären Verherrlichung der zur Norm erklärten heterosexuellen Kleinfamilie. Als ich meinem exotistischen Impuls nachgebe und frage, ob Sexualität in der asiatischen Kultur nicht weniger puritanisch als in den USA strukturiert sei, weicht sie aus wie einst Anna May Wong, über die Benjamin schrieb: „Aus Frage und Antwort macht sich May Wong eine Schaukel: Sie legt sich zurück und taucht auf, versinkt, taucht auf, und ich komme mir vor, als gäbe ich ihr von Zeit zu Zeit einen Stoß.“

Amanda Lee Koe taucht also wieder auf und sagt: Zwar bemühe sich die Regierung, Singapur nach außen mehr sexy erscheinen zu lassen. Aber dieses Bild transportiere absurderweise eine Sexyness, die ganz ohne Sex auszukommen versuche.

Die Körper und die Anziehungskräfte zwischen ihnen sind ein Katalysator ihrer Geschichten, deren Sprache selbst promisk ist. Englisch ist eine der vier Amtssprachen und Verkehrssprache des Inselstaats. Amanda Lee Koe schreibt auf Englisch, streut aber Begriffe aus dem Malaysischen oder aus südchinesischen Dialekten wie Hokkien in ihre Texte ein, wenn es um Essen oder Popkultur geht, so wie es die Leute in Singapur eben machen. Den Vorschlag ihres Verlegers, solche Wörter zu kursivieren, hat sie kategorisch abgelehnt, würde sie damit doch selbst eine exotisierende, in ein gedachtes Draußen verlegte Position einnehmen.

Ihre Aufgabe für die Zukunft definiert Amanda Lee Koe so: mehr am ästhetischen Vehikel arbeiten. Was sie vermisst? „Writing without thinking too much.“

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