Sichere Herkunftsstaaten im Maghreb: Kretschmann ist noch unentschieden
Wie stimmen die Grünen im Bundesrat in der Frage der sicheren Herkunftsstaaten ab? Nicht unbedingt so, wie es beim Parteitag beschlossen wurde.
„Wir halten die von der Bundesregierung mit Nachdruck betriebene Ausweitung der ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ für falsch“, hieß es da. „Sichere Herkunftsstaaten“ wurde mit Anführungszeichen versehen, wohlgemerkt. Staaten ließen sich nicht per Gesetz für sicher erklären. Doch Papier ist geduldig und Parteitagsbeschlüsse sind manchmal wenig wert, wenn die Realität vorbeischaut.
Jetzt droht den Grünen erneut eine Blamage mit Ansage – falls die von ihnen mitregierten Länder einer Reform zustimmen, die die die Bundespartei offiziell ablehnt. Am Mittwoch hat Angela Merkels Kabinett einen Gesetzentwurf beschlossen, der Algerien, Marokko und Tunesien als sicher deklariert. In solche sicheren Herkunftsstaaten können Flüchtlinge unkomplizierter abgeschoben werden. Der Bundesrat muss dem Gesetz zustimmen. Das heißt also: Die neun von Grünen mitregierten Bundesländer könnten es verhindern.
Nun kommt es auf Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann an, den Chefverhandler der Länder-Grünen – und auf seine Kollegen in Hessen, NRW oder anderswo. Kretschmann aber hält sich das Ja explizit offen. „Grundsätzlich verschließt sich der Ministerpräsident dem nicht“, sagte Kretschmanns Sprecher Rudi Hoogvliet am Mittwoch der taz. Entschieden sei aber noch nichts.
Das Auswärtige Amt gab grünes Licht
Kretschmann hatte zuletzt darauf verwiesen, dass nur das Auswärtige Amt in Berlin über die Quellen verfüge, um die Lage in den nordafrikanischen Staaten zu beurteilen. Das AA hat jetzt grünes Licht gegeben. Hoogvliet kündigte an, die Regierung in Stuttgart werde den Entwurf noch einmal prüfen und „zügig“ entscheiden.
Kretschmann steht mitten im Landtagswahlkampf und versucht, in der Asylpolitik nichts anbrennen zu lassen – auch, indem er pragmatisch und schnell abschieben lässt. Die Landes-CDU lauert auf jeden Fehler, den sie dem beliebten Ministerpräsidenten vorhalten kann. Ein Nein zu mehr sicheren Herkunftsstaaten wäre für sie ein gefundenes Fressen.
Schließlich geht es bei dem Koalitionsgesetz auch um die sexuellen Attacken in der Kölner Silvesternacht. Viele der Täter, die Frauen in einer Menschenmenge begrapschten und beraubten, kamen wohl aus Marokko, Algerien oder Tunesien. Schnell zurück mit denen, das klingt einfach und einleuchtend.
Kretschmann sieht die Sache mit den sicheren Herkunftsstaaten auch anders als seine Partei. Er hat dem Konzept schon 2014 im Bundesrat zugestimmt, was damals bei den Grünen viele empörte. Als die Koalition im Herbst 2015 Albanien, Kosovo und Montenegro für sicher erklären wollte, stimmte die Mehrheit der grün mitregierten Länder zu. Die Koalition hatte damals den Plan mit dringend nötigen Milliardenhilfen für die Länder verknüpft. Diese bösartige Verbindung fehlt dieses Mal. Die Ausweitung der Staatenliste erfordert ein eigenes Gesetz.
Kritik der Berliner Spitzengrünen
Die Grünen-Spitze in Berlin kritisierte den Beschluss am Mittwoch scharf: Mit der neuen Ausweisung vermeintlich sicherer Herkunftsstaaten versuche die Koalition, vor den Landtagswahlen Handlungsfähigkeit zu simulieren, sagte die Parteivorsitzende Simone Peter. Die Einstufung sei nicht nachvollziehbar, in allen drei Maghreb-Staaten gebe es politische Verfolgung.
„Das ist Populismus in Gesetzesform“, sagte Luise Amtsberg, die flüchtlingspolitische Sprecherin der Fraktion. Der Plan bringe nichts bei der Kriminalitätsbekämpfung, beschränke aber die Rechte von Frauen, Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Schwulen und Lesben, die aus diesen Ländern nach Deutschland fliehen.
Der Innenpolitiker Volker Beck sagte: „Die Menschenrechtslage in Algerien, Marokko und Tunesien ist alles andere als einwandfrei.“ Menschenrechtsorganisationen bestätigen diese Sicht. Die Frage ist, ob der Grüne Kretschmann und seine Länderkollegen das auch so sehen – oder ob andere Motive wichtiger sind.
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