zwischen den rillen: Abschied von der Selbstenblößung: PJ Harvey
Im Visier der Kamikazeflieger
Neonlicht, schimmerndes Neonlicht! Bars, Taxis, Restaurants. Ein Mädchen vom Land zieht aus, die Welt zu bestaunen. Sie geht nach New York, vergisst die Vergangenheit, verliebt sich dort und bleibt. Das ist die glückliche Geschichte, die Polly Jean Harvey uns auf ihrem neuen, ihrem sechsten Album „Stories from the City, Stories from the Sea“ erzählen will.
Sie erzählt in Liebesliedern vom Lachen und Anfassen: in Little Italy, in Brooklyn oder Manhattan, auf den Dächern der Stadt mit Blick auf den Sonnenuntergang. Es gibt ein Duett mit Radiohead-Sänger Thom Yorke, in dem er sehr weiblich und sie männlich klingt, es gibt einen Liebsten, der irgend etwas Unvergessliches sagt. Alles klingt beim ersten Hören harmlos, aufgeräumt, als trete sie hinter die Band, hinter die Instrumente. Was ist passiert?
Die ganzen Neunzigerjahre hindurch verkörperte PJ Harvey eine der erschreckendsten und großartigsten Auffälligkeiten im größten Sturmangriff der Musikerinnen in der Geschichte des Pop. Ihre Strategie war furchtbarer als die der meisten anderen – femininer als die weiblichen Kumpeltypen einerseits, uneindeutiger als die Selbstentblößerinnen andererseits, offener aber auch als die Poserinnen.
Die Riot Grrrls machten zu oft aus Bühnen Diskussionsforen und polemisierten gegen Strategien wie die von Harvey. Sie aber ließ sich nicht beirren und gab das lustbetonte Monster. Ihre Vorbilder waren nicht Patti Smith oder Kate Bush, mit denen sie oft verglichen wurde, sondern Tom Waits oder William Burroughs. Sie coverte Lieder von Kurt Weill, und ihr morbider Charme ist vielleicht noch am ehesten mit dem eines Nick Cave vergleichbar, mit dem sie 1996 die haarsträubende Mörderballade „Henry Lee“ im Duett sang und in dessen Band ihr Gitarrist Mick Harvey mitspielt.
PJ Harvey konstruierte eine Figur, die nicht ausbricht, sondern den Gefängnisaufstand probt, entweder fesselt oder in die Flucht heult. Das war zu viel für alle – übrigens auch für viele Musikkritiker, die oft beteuerten, begeistert, aber nicht zuständig zu sein.
Bei Harvey war der Körper eine Quelle von Begehren und Unbehagen, Intimität und Entfremdung, Lust und Angst, mal ein üppiger Obstbaum, mal ein totes Gewicht. Sie rühmte den Abgrund zwischen der Frau als Objekt männlicher Phantasien und ihrer fleischlichen Wirklichkeit.
Mal sang sie aus der Perspektive des Penetrierenden oder über die Einengung der Bewegungsfreiheit durch Frauenkleider, mal ließ sie ihren Gitarristen den weiblichen Part übernehmen. Man konnte es so hören, als kämpfe ihre Stimme mit etwas Fremdem, mit einem Instrument, mit einem Ding, mit ihrem Körper. Man konnte es aber auch anders hören: einfach als düsteren, schönen Blues.
Polly Harvey war die Fleisch gewordene Romanfigur aus einem der Bücher der Brontes. Unerreichbar lebte sie irgendwo bei ihren Hippie-Eltern im Südwesten in der englischen Provinz, dort, wo sie aufgewachsen ist. Ihre Lieder handelten von verrückten Frauen, die Kathedralen auf Berge bauen, und man hörte es immer mit, das Dorf, wo es alltäglich ist, Tiere auszuweiden, wo Inzest und Einsamkeit ist, Psychose und Platzangst.
Nun aber ist sie in die Welt gegangen. Es ist, als ob Polly Harvey, inzwischen 31 Jahre alt, nach fast zehn Jahren Rampenlicht ihre Performance voller Schmerz, Zerrissenheit und Sadismus während eines sechsmonatigen Aufenthalts in New York in der Zerstreuung der Metropole begraben hätte. Da macht es auch nichts aus, dass die Stadt ihre Kinder verschlingt.
Hier gibt es nicht nur Glamour und die große Liebe, sondern Heroin und Speed in Massen, Stricher und Nutten. Umso besser! Mord und Totschlag, der Untergang ist längst besiegelt, gut so. Polly Harvey tanzt mittendrin und fast fröhlich singt sie dazu: „I wanna gun!“.
Es ist weder das Lied von der Suche nach Glück noch das von der, die auszog, das Fürchten zu lernen. Eher das von der Wohltat, nicht allein zu sein. Anderes Elend lenkt ab vom eigenen. Und hört man genauer hin, so lauert die Gefahr umso bedrohlicher im Dunkeln, die Pferde kommen in den Träumen zurück, die Kamikaze-Flieger haben ihr Ziel visiert, nämlich sie. Aber das alles wirkt gebrochen, fast ironisch. Wie in einem guten Horrorfilm, wo partout kein Blut fließt. SUSANNE MESSMER
PJ Harvey: „Stories from the city, stories from the sea“ (Mercury/Universal)
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