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Archiv-Artikel

zwei augen sehen mehr als zweihunderttausend von WIGLAF DROSTE

„Papier ist geduldig. Aber nicht alle Leser sind blöd“, schreibt Franz Dobler in seinem Nachwort zur Neuausgabe von „Trotzki, Goethe und das Glück“, den gesammelten Gedichten und Liedern von Jörg Fauser, die der Alexander Verlag Berlin als vierten Band seiner Fauser-Gesamtedition im Frühjahr 2005 vorgelegt hat. Dobler nennt Fauser „einen Mann, der Gedichte schrieb, um sein Leben zu retten“; Fausers Gedichtsammlung ist für ihn „ein Gesangbuch, durchzogen von einem wummernden Blues. Könnte mir jemand in den Sarg legen.“

Fausers Hauptwerk ist der autobiografische Roman „Rohstoff“. Harry Gelb alias Jörg Fauser, Ex-Junkie und harter Spritter, ist ein Außenseiter noch bei denen, die selbst schon draußen sind. „Ich hatte sie alle satt, die Nietenjacken wie die Rollkragenpullover, das Gesabber der einen wie die Standpunkte der andern, Sodom und Gomorrha oder Marxismus/Leninismus, Jacke wie Hose, aber wenn mich schon alle anstarrten, wo ich mich hinsetzen würde, dann nahm ich doch lieber bei denen Platz, die keinen Bausparvertrag, kein Parteitagsmandat und keine politische Illusion mehr zu verlieren hatten, nur noch ihre Backenzähne.“

Als „Rohstoff“ 1982 erschien, war Fauser 38 und hatte schon gründlich hinter sich, was einem in Deutschland so blüht: die Begegnung mit den Landsleuten in ihrer ganzen Pracht, die Besserdeutschen, die deutsche Linke also, inklusive. Wenn man die Lebenslügen der Rechten, der Liberalen und der Linken gleichermaßen nicht teilen möchte und, nicht aus Ressentiment, sondern aus Erfahrung, das Laufen bekommt, wenn wieder irgendeine neue Losung zur Rettung der Welt aus einem idealismusgesättigten oder clevergetuneten Schlaumeiergesicht herausorgelt, hat man ein Gutteil seiner Mitmenschen vom Hacken. Auch davon, vom Preis der Wahrheit, erzählt der Roman „Rohstoff“.

Fauser war ein seltsamer Mann, der nirgendwo dazugehörte und der die deutschen Verhältnisse verabscheute, weil er sie kannte. Er starb im Juli 1987 – in der Nacht nach seinem 43. Geburtstag wurde er auf einer Münchner Autobahn von einem Lkw überfahren. Es war ein Abgang nach Maß, mysteriös bis heute.

Zu seinen Lebzeiten hielt Fauser vom deutschen Literaturbetrieb genau dieses: „Wer will Martin Walser, wenn er Burroughs haben kann? … Was waren die deutschen Romanschreiber für geschwätzige Langweiler, und ewig die versäumten Gelegenheiten, das gaben sie dann für Besessenheit aus.“

„Rohstoff“ ist noch immer ein Buch, das jeden faulen Welt-, Land-, Seelen- und Ehefrieden stört. Fauser entfernte sich damit aus dem deutschen Brei, dieser schmierigen, verdrucksten, vergangenheitsverdrängenden, haltungslosen, nicht enden wollenden Nachhitlerzeit.

Schlecht ist Fauser immer da, wo er sich stilisiert und sein Verlierertum heroisiert. Aber wenn er sich zwingt, genau zu beobachten, wird er richtig gut. Vier Augen sehen manchmal wirklich mehr als zwei – wenn Liebe ihren Blick für das Wesentliche schärft. Aber immer sehen zwei Augen mehr und besser als zweihunderttausend. Fauser wusste das: Der Mensch taugt vielleicht nicht viel, aber er taugt allemal mehr als die Meute.