zurückbleiben bitte! von ILKE PRICK:
Wir sitzen auf dem Balkon. Wir, die Leute gegenüber und auch die von unten drunter. Sie wirken am Balkon festgewachsen wie Osterglocken. Laut ist es hier, mitten in Kreuzberg, im Angesicht der U-Bahn, die hier gar nicht mehr U ist, sondern Ü – Ü wie überirdisch.
Meine Freundin erzählt Geschichten, und quietschend nähert sich die nächste Bahn dem Bahnhof. Alle zwei Minuten das gleiche Spektakel. Quietschen und Pfffften und dann das Gesumme der Ausgestiegenen. Dazwischen das obligatorische „Zurückbleiben bitte!“
„Ich lese gerade ein Buch“, sage ich zu meiner Freundin, die einen Kirschkuchenkirschkern über die Balkonbrüstung spuckt, was zu noch lauterem Brabbeln vom unteren Balkon führt. Das nächste „Zurückbleiben bitte!“ hallt herüber. „Ein Buch über Superlearning“, erkläre ich. „Superlearning?“ Meine Freundin steckt ihre Zehen als gymnastische Übung in den Oleandertopf, um das Unkraut zu jäten. Wissenschaftlich versiert, wie ich bin, gebe ich eine kurze Einführung in Superlearning, während sie ihre Füße im neu angelegten Feuchtbiotop mit Miniseerose badet. „Superlearning, du weißt schon. Du nimmst deinen Walkman und hörst Vokabeln. Am besten kurz vorm Einschlafen, und am nächsten Morgen sprichst du perfekt Italienisch.“ – „Wieso Italienisch?“, fragt mich meine Freundin verwirrt, „ich wollte doch nach Syrien im Sommer.“ Wie gesagt, Superlearning für Anfänger. „Natürlich kannst du auch Hocharabisch lernen.“ Der Lautsprecher vom Bahnsteig dröhnt. „Ach“, winkt sie ab, „so was wie Suggestopädie!“ Vorsichtshalber nicke ich. „Botschaften im Hintergrund, die sich, schwupps, festsetzen, oder?“ Wir nicken beide und malen uns in stummem Einvernehmen aus, was wir so alles erreichen könnten. Vierzehn Sprachen fließend und nie wieder Selbstzweifel. Sollte doch mal was an uns nagen, schalten wir schnell den Walkman an mit der Kassette: „Schön, berühmt und glücklich über Nacht“. Völlig neue Perspektiven. Wir schauen auf die U 15 und wieder dröhnt es: „Zurückbleiben bitte!“
Die Stirn meiner Freundin bewölkt sich. „Du, sag mal“, fragt sie zögerlich nach zweimal „Warschauer Straße“ und einmal „Krumme Lanke“, „funktioniert das eigentlich mit allen Sätzen, die man unbewusst mitbekommt?“ Ich stutze. „Du meinst deswegen?“, und nicke zur Ü-Bahn. „Na ja, weißt du“, fährt sie fort, „wenn ich das hochrechne: alle zwei Minuten eine Bahn. Wenn ich mich also, die Nächte abgezogen, fünf Stunden in der Wohnung aufhalte, höre ich es täglich ungefähr 150 Mal. In der Woche sind das 1.050.“ Ihr Blick wird leicht panisch: „Ich wohne seit fast 10 Jahren hier! Das macht ungefähr 546.000 Mal. Sei ehrlich – findest du, dass ich in irgendeiner Weise zurückgeblieben bin?“ – „Natürlich nicht!“, versuche ich zu beschwichtigen, „außerdem musst du doch noch den Urlaub abziehen!“
Getröstet hat sie das wohl nicht, denn drei Wochen habe ich keinen Ton von ihr gehört. Zum Glück steckte heute eine Postkarte im Briefkasten: ihre Einladung zum Umzug. In eine ruhige Seitenstraße, fern von jeder U-Bahn.
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