zukunft des nahverkehrs: MARKUS PETERSEN über die Beute der Privatisierer
Der Tod des öffentlichen Raums
„Fahrt alle Taxi!“ war der Titel eines Kommentars von Andreas Knie, Techniksoziologe an der TU Berlin, an dieser Stelle im Februar anlässlich des 100. Jubiläums der Berliner U-Bahn. Die taz diskutiert aus diesem Anlass – immer samstags – streitwürdige Thesen zur Zukunft des Nahverkehrs. Zuletzt schrieb Christian Maertins über die neue Unübersichtlichkeit im Nahverkehrsraum.
Als ich vor kurzem auf dem Moskauer Kasanski-Bahnhof eine Zigarette auf den Bahnsteig schnippte, zwangen mich die Blicke der fremden Menschen, die Kippe wieder aufzuheben und mangels Abfalleimers in die Hosentasche zu stecken. Erst da fiel mir auf, wie sauber die Bahnhöfe der russischen Kapitale sind. Als ich 24 Stunden später in Schönefeld in die S-Bahn stieg, bewarfen sich zwei junge Männer bis zum Treptower Park mit Salzstangen. Ich schritt nicht ein, sondern wechselte den Waggon. – Ein scheinbar moralinsatter Textbeginn und doch der Kern eines Problems, um das erfolgreich herumgeredet wird: der Verlust des öffentlichen Raums.
Schon länger grassiert in den Feuilletons die Trauer über diesen Verlust. Beklagt wird die Aneignung öffentlicher Plätze durch die Markenwelten der Großindustrie. Bertelsmann kauft sich Unter den Linden ein, Sony und Daimler erwerben den Potsdamer Platz. Stadt als Beute. Sie tun das, weil sie glauben, dass solche Aneignungen wirksamer sind als das Bekleben der Stadt mit Werbung.
Die Fachnostalgiker haben jedoch Unrecht: Der öffentliche Raum stirbt nicht, weil ihn seine Privatisierer mit Reklame zerstören. Der öffentliche Raum – hier verstanden als ein Regelset zur Rationalisierung der Begegnung von Fremden – ist schon gestorben. Weil wir ihn schon lange nicht mehr haben wollen. Reklame und private Autos rekolonisieren lediglich einen verlassenen Raum. Denn wir haben Platzangst. Das zeigt die unendliche Debatte über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, die deshalb so fruchtlos und restaurativ verlief, weil wir mit großen Plätzen nichts mehr anfangen können. Einstweilen bleibt der Raum vor dem Palast der Republik folgerichtig Parkplatz für fahrende Wohnzimmer. Denn das wollen alle bestimmt und immer: die Ausweitung der privaten Räume, mobiler und immobiler. Und zwar nicht nur wegen unserer intimisierten Gesellschaft, sondern weil wir uns nicht mehr in öffentlichen Rollen auszudrücken vermögen (Richard Sennett).
Die Beispiele Zigarette in Moskau versus Salzstangen in Berlin zeigen, dass wir auch in den beengten Räumen des öffentlichen Verkehrs nicht mehr wissen, auf welcher Grundlage wir richtiges Verhalten durchsetzen können. Wir glauben, nur noch im Privaten authentisch sein zu können, und überlassen die Reste des öffentlichen Raums den Schauspielern auf den Bühnen und in den Parlamenten. Die Stadt als eine Veranstaltung zur Begegnung von Fremden interessiert höchstens noch im ökonomischen Sinne.
Die Nostalgiker öffentlicher Räume haben viele Freunde bei der BVG und argumentieren ungefähr so: Wer einmal das Olympiastadion mit der Schnellbahn, die Waldbühne hingegen mit Bus oder gar Privat-Pkw verlassen hat, wird zustimmen, dass die Schnellbahn das effizienteste aller Verkehrsmittel ist. Aber rechtfertigen einzelne Events riesenhafte Subventionen durch eine bankrotte Stadt? „Ja“ wird gesagt, weil diese effiziente Schnellbahn generell den öffentlichen Raum schone, sprich wenig verbrauche. Wir retten jetzt nicht mehr Urwald, wir retten jetzt öffentlichen Raum.
Der private Pkw hingegen sei ein Platzverschwender. Das stimmt. Dennoch ist es irrelevant. Warum sollten öffentliche Räume geschont werden? Nur um mangels Lust der Bürger an ihnen sofort entleert oder privatisiert zu werden? Oder anders gefragt: Warum soll der Steuerzahler Milliarden in die U-Bahn stecken, damit der geschonte öffentliche Raum von Privat-Pkws besetzt wird? Die hohe Subventionierung des öffentlichen Verkehrs sollte nur dann mit seiner Effizienz legitimiert werden, wenn der dadurch geschonte öffentliche Raum auch gewünscht und „öffentlich“ belebt wird.
Die BVG braucht nicht zu retten, was wir nicht haben wollen. Es ist aber auch nicht ihre Aufgabe, die Einstellung der Bürger zu ihren öffentlichen Räumen zu ändern. Vielmehr sollte sie sich den veränderten Erwartungen anpassen: Das heißt eine Differenzierung in Richtung „privaterer“ Angebote und damit eine Kehrtwende des aktuellen Trends, der auf Entleerung und Automatisierung setzt. „Privatere“ Räume schließen einige Menschen definitionsgemäß von der Nutzung aus. Würde die BVG Autos vermieten, fände es die Öffentlichkeit okay, dass niemand anders als die Mieter mit ihnen fahren dürften. Groß wäre jedoch der Protest, wenn die BVG den Zugang zum 1.-Klasse-Waggon auf Zuzahler beschränkte. Was für die Autogesellschaft, die Airlines und die Fernbahn selbstverständlich ist, soll für den öffentlichen Nahverkehr in Berlin nicht gelten? Diese schon wieder lustige Verweigerung des Normalen kann nur noch tiefenpsychologisch erklärt werden: der öffentliche Verkehr als letzte Insel unserer sozialistischen Projektionen, die U-Bahn eine Art untergegangene DDR.
Angesichts einer Milliarde Subventionen muss es erlaubt sein, die Interessenlage zu diskutieren. Ein öffentlicher Verkehr, der versucht, klassenlose öffentliche Räume mit klassenlosen Waggons zu schaffen, nutzt eigentlich nur den Privatisierern. Die haben den Raum, und wir lesen traurige Feuilletons.
Markus Petersen ist Gründer von Stattauto Berlin und Geschäftsführer der choice mobilitätsproviding GmbH.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen