wortwechsel: Über die Krise hinausschauen
Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen für jetzt, aber wie geht es danach weiter? Für die taz-LeserInnen bietet Corona auch die Möglichkeit für drastische Veränderungen
„Ende einer Theorie“
taz vom 21/22. 3. 20
Keine Zeit für Ich-AGs
Nahezu zeitparallel zur Erfindung von privater Rürup- und Riesterrente wurde damals auch die Ich-AG eingeführt. Es handelte sich dabei um das neoliberale Konzept vom Einpersonenunternehmen, dessen Subjekt seine Ich-Identität mit seinen wirschaftlichen Interessen so kurzschloss, dass dabei der für den wirtschaftlichen Einzelkampf euphorisierte Homo oeconomicus herauskam. Wenn sich der Neoliberalismus für eine durch Krisen unkalkulierbare Zukunft nun spätestens in der Coronakrise als völlig untauglich erweist und sein Mantra vom allein glücklich machenden materiellen Individualismus schon seit Jahren immer hohler klingt, so verschwinden mit seinem faulen Zauber auch seine geburtsfauligen Projekte: darunter private Altersrenten und die Ideologie vom Ich als Wirtschafts-AG. An dessen Stelle könnte eine durch gemeinsam geteilte existenzielle Krisen resolidarisierte Menschhheit endlich eine nicht nur wirtschaftlich, sondern allumfassend an einem würdigen, möglichst zukunftsangstarmen Leben orientierte Wir-AG gründen. Zumindest schon mal im Geiste.
Wolfram Hasch, Berlin
Statt Egoismus
Die Ausbreitung des Coronavirus ist eine der größten Herausforderungen für uns Menschen im 21. Jahrhundert. Die Bewältigung dieser Menschheitskrise par exellence erfordert von uns allen Solidarität in allen seinen Facetten und praktischen Ausführungen. Das Gebot der Stunde ist Solidarität statt Egoismus. Dieser Appell richtet sich an jeden Einzelnen, sollte aber zuallererst bei den oberen 8 bis 10 Prozent Reichen, den Millionären und Milliardären praktische Resonanz finden. Diese Reichen sind zum Beispiel teilweise auch die, die Teilhaber oder Besitzer privater Krankenhäuser sind. Sie sind auch Teilhaber an Rüstungsfirmen und anderen menschenverachtenden Produktionsbetrieben. Es sind leider oft auch die, die ihr Geld in sogenannte Steueroasen transferieren und damit uns alle und unser Gemeinwesen sowie den Staat schädigen. Mein Appell an alle diese Reichen: Seien Sie solidarisch, zahlen Sie Ihre Steuern, verzichten Sie auf einen Teil Ihres Reichtums und unterstützen Sie lebenswichtige Bereiche: Krankenhäuser, Produktionsbetriebe für Hygiene-Artikel, soziale Einrichtungen, die sich um Alte, Kranke, Einsame, Flüchtlinge, Obdachlose kümmern. Seien Sie solidarisch und nicht egoistisch.
Hilmar Froelich, Bloherfelde
Die bessere Gesellschaft
„Im Griff des Virus“
taz vom 23. 3. 20
Das Coronavirus zeigt einmal mehr, wie fragil unsere jahrzehntelang auf Konkurrenz und Wettbewerb getrimmte Gesellschaft ist. So ist es nur vernünftig, die akute Krise gemeinsam zu bewältigen, also die derzeitige Regierung (kritisch) zu unterstützen. Aber wie geht es weiter, nachdem das Virus eingedämmt wurde? „Busines as usual“ oder werden wir alle aus der Krise gelernt haben? Wollen wir eine andere, bessere Gesellschaft? Nur Angsthasen, Dummköpfe und natürlich die Nutznießer des neoliberalen Unsinns werden diese Frage mit Nein beantworten. So ist die Zeit überreif, dass die Oppositionsparteien aus Grünen und Linken gemeinsam mit den progressiven Kräften in der SPD zügig den Wahlkampf für eine solidarische und wohlfahrtsorientierte Gesellschaft eröffnen. Also: Tut euch gefälligst zusammen! Ergreift die einmalige historische Chance, argumentiert auf „Teufel komm raus“ und kämpft für eine bessere Gesellschaft, denn das Zeitfenster wird nicht lange offen bleiben!
Harald Seiling, Lünen
Zukünftig Notwendiges
„Freiheit braucht eine Wahl“
taz vom 23. 3. 20
Da wir zurzeit keine Wahl haben, sondern das Notwendige tun müssen – zu Hause bleiben und körperliche Kontakte meiden –, können wir die Zeit nutzen und überlegen, wie wir unsere Freiheit nutzen werden, wenn wir wieder die Wahl haben. Die Richtung gibt der Autor Aladin El-Mafaalani vor. Er schreibt: „Ökonomische Katastrophen können auch töten.“ Der über 2 Grad hinausgehende Klimawandel wäre die ökologisch-ökonomische Katastrophe zum Tode. Schon heute beobachten wir Artenschwund. Vor Corona waren wir unwillig und verzagt, die Entwicklung auf 2 Grad zu begrenzen. Fassen wir in der Coronakrise den Mut, das für unerreichbar Gehaltene zu schaffen. Der erste Schritt dazu ist die Decarbonisierung, möglich durch den Ersatz von Kohle, Öl, Gas durch Strom. Landwirte fordern schon heute Ernteausfallhilfe bei 1 Grad Temperaturerhöhung. Der Auf- und Ausbau der Erneuerbaren würde uns nicht nur preiswerteren Strom bescheren, sondern als Motor zur Wiederankurbelung der Wirtschaft dienen. Ohne Strom läuft nichts, schon gar nicht das Internet, das unsere Kommunikation ermöglicht. Zu Zeiten der Spanischen Grippe gab es dieses Freiheitsmedium noch nicht. K. Warzecha, Wiesbaden
Lehren aus der Krise
„Neue Formen des digitalen Lernens“
taz vom 20. 3. 20
Achtung, „Corona-Falle“! Wenn jetzt die Situation des unterbrochenen schulischen Unterrichtens dazu genutzt wird, um klarzustellen, dass es höchste Zeit ist, das digitale Lernen noch mehr zu forcieren, dann ist das der Fall in die Falle! So ein Institut, das mit so viel Geld ausgerüstet ist, um zusammenzutragen, was wo toll funktioniert und von uns gelernt werden sollte, hat eine ganz einseitige Aufgabe. Soll doch bitte mit dem gleichen Budget ein Institut gefördert werden, das sich mit den Forschungen zu den Entwicklungbedingungen in der Kindheit und Jugend befasst. Dann würde es einen differenzierten Blick auf den Platz der Digitalisierung in der Pädagogik bringen. Welches sind denn die nächsten „Lehren“ aus der Coronakrise, etwa dass totalitäre Überwachungsstaaten damit am besten klarkommen?
Jochen Künkele, Bielefeld
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