wortwechsel: Regieren? Nicht regieren? Ach, lieber überreagieren
SPD-Farce mit und ohne Schulz: Wie viele Rollen rückwärts erträgt eine Partei? Kein Aufstand? Kein Anstand? War es unanständig, Schulz von der großen Bühne zu holen?
„Angst schlägt Anstand“,
taz vom 10./11. 2. 2018
Der Schwenk
Wer von uns taz-Lesern ist nicht gespannt auf die Wochenendkolumne von Frau Gaus? Nun führt sie uns vor, wie nicht nur Parteivorsitzende ihre begründbaren Meinungen revidieren, sondern auch sehr geschätzte Korrespondenten. Ich spreche den Schwenk von Frau Gaus an, die nun SPD-Mitgliedern mit Gründen empfiehlt, gegen den Koalitionsvertrag zu stimmen, weil sie von einer solchen Partei nicht mehr regiert werden will. Schwanken wir nicht alle mit unseren Meinungen – weil, ja weil sich das Panorama so schnell ändert? Das war auch Papst Benedikts Seufzer im Abdankungsschreiben. Schulz, so wird er kritisiert, denkt kleinteilig.
Und wir? Der ganze Groko-Vertrag ist so; so waren die vergangenen 12 Jahre Merkel; die EU Abschottungsbemühungen sind so und Chinas Schwenk zu erneuerbaren Energien ist so, weil sie im Smog ersticken und die Partei Angst vor Unruhen hat, nicht weil die Südseestaaten versinken oder Spanien im Sommer bei über 40 Grad geröstet wird.
Und wir, wir lassen uns durch Kleinteiliges ködern. Wir Erdenbürger haben zusammen eine Zukunft – oder keine. Kleiner dürfen wir nicht mehr denken. Das den Wählern in der Lausitz zum Beispiel bewusst zu machen, die von Werks- und Grubenschließungen betroffen werden, ist nachvollziehbar unmöglich. Das kann nur ein sozialer Ausgleich mindern.
Klaus Warzecha, Wiesbaden
Endlich hat’s ein Ende
Auch wenn das Scheitern von Martin Schulz etwas Tragisches hat, weil er als Präsident des Europaparlaments so viel gut gemacht hat, muss man sagen, dass sein Scheitern im nationalen Politikbereich an vielen Fehlern lag, die er sich selbst zuzuschreiben hat. Schon der Beginn des Wahlkampfs mit der Parole „Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden“ war einfach peinlich. Und der eigentliche Inhalt seines Wahlprogramms – „Gerechtigkeit für die hart arbeitenden Menschen“ – ließ alle außen vor, die wegen der Agenda 2010 die SPD nicht mehr gewählt haben: die Rentner, die Arbeitslosen, die Teilzeitbeschäftigten, die, die für Kinder oder hilfsbedürftige Angehörige ihre Berufstätigkeit unterbrochen hatten, die Geringverdiener, denen schlimmste Altersarmut drohte.
Das schlechte Wahlergebnis war kein Zufall, und Herr Schulz hätte sofort zurücktreten sollen. Aber, wenn schon nicht Kanzler, dann wollte er wenigstens Oppositionsführer werden. Später, als das Ergebnis der Sondierung von ihm hervorragend genannt, aber von der Partei hart kritisiert wurde, hätte er wieder sagen müssen: „Wenn ich so weit von euch entfernt bin, kann ich nicht mehr Vorsitzender sein.“ Aber stattdessen wollte er entgegen früheren Aussagen jetzt sogar in die Regierung gehen.
Erst, als das nun das Fass zum Überlaufen brachte, kam sein Rücktritt, aber nicht einfach als Eingeständnis von Fehlern mit dem Angebot, die Partei könne neu den Vorsitz bestimmen, sondern gleich mit dem Versuch, selbst die Nachfolge zu regeln, was der tüchtigen Frau Nahles die Wahl zur Vorsitzenden vermasseln kann. Bei so vielen Fehlern ist es mehr als berechtigt, ein Ende zu verlangen.
Ulrich Finckh, Bremen
Selbstzerlegung
Vom SPD-Super-Martin zum SPD-Super-GAU, vom Schulz-Effekt zum Schulz-Infekt. Wenngleich erzwungen, war der Verzicht von Martin Schulz auf das Außenministerium, auch die Übernahme eines anderen exponierten Amtes in der Bundespolitik nicht nur richtig, sondern unumgänglich. Ob die Chaostage und der Selbstzerlegungsprozess der ehemals stolzen Volkspartei damit beendet sind, muss allerdings stark bezweifelt werden. Zu groß ist der Flurschaden, den der vermeintliche Heilsbringer aus Würselen, aber auch die Parteispitze insgesamt in den letzten Tagen angerichtet haben, als dass nicht zudem verbrannte Erde zurückbleiben könnte. Schade und bedenklich, denn das mit dem Koalitionsvertrag Erreichte erhält somit gewiss nicht den angemessenen Stellenwert.
Ira Bartsch, Lichtenau-Herbram
Es geht um Europa
Wenn man Martin Schulz eines zugetraut hätte, wäre das eine vernünftige Europapolitik. Es war genau diese Erwartung, die ihn im März 2017 auf einer Welle der Euphorie in das Amt des Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten der SPD gespült hat, ähnlich wie es Emmanuel Macron in Frankreich ergangen ist.
Doch noch im selben Monat schob die verlorene Wahl im Saarland der Öffnung nach links einen Riegel vor, und dass das neue Europa auf einer Stärkung des Solidaritätsprinzips und größerer Verantwortung für die sozial Abgehängten in ganz Europa basieren sollte, durfte von vornherein nicht allzu laut propagiert werden – aus Angst vor den Kräften, denen kein Argument zu dumm ist, um zur Bewahrung eigener Pfründen die nationale Abschottung zu betreiben und Fremdenfeindlichkeit selbst gegen solche zu schüren, die uns schon lange keine Fremden mehr sind. Europa ja, aber wehe, es kostet uns auch nur einen Cent!
Als Schulz dann Anfang Dezember, ohne dass dem eine erkennbare Entwicklung vorausgegangen wäre, praktisch wie aus dem Nichts seine Vision der Vereinigten Staaten von Europa bis 2025 vorstellte, mussten sich von diesem eruptiven Ausbruch selbst die erfahrensten Vulkanologen, Entschuldigung, die überzeugtesten Europabefürworter überfahren fühlen.
Erst mit dem Koalitionsvertrag gelang es endlich, in Anlehnung an die Vorschläge Frankreichs eine tragfähige Vorstellung des zukünftigen Europas in eine wenigstens halbwegs konkrete Form zu gießen. Aber wie eigentümlich, die ermatteten und ausgelaugten Gesichtszüge von Martin Schulz und Angela Merkel zu sehen. Sie sehen wirklich aus wie müde Dinosaurier, und es braucht einen Moment des Nachdenkens, um zu verstehen, dass es gerade ihr Kampf um eine Einigung auf ein neues Europabild war, der sie beide zu viel Kraft gekostet hat. Ist es wirklich nur eine Personalfrage, dass Martin Schulz nicht Außenminister werden darf? Oder ist es nicht doch eine politische Richtungsentscheidung und wir werden morgen wieder „Deutschland, Deutschland über alles!“ singen? Heut würde man sagen: „Germany first!“ Torsten Steinberg, Porta Westfalica
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