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Archiv-Artikel

warenkunde Flüssig sein

Der Kapitalismus verspricht Liquidität – und meint damit auch den Traum ewiger Jugend auf Seiten der Konsumenten

Kapitalisten sind kindisch! Bekanntlich wollen sie Geld verdienen, um es so anzulegen, dass sie noch mehr verdienen. Geld ist für sie „geprägte Freiheit“ (Dostojewski): Wer Geld hat, ist im Besitz noch nicht realisierter Möglichkeiten und darf seine Fantasie spielen lassen. Sind dringende Bedürfnisse befriedigt, ist Geld also nicht mehr nur Zahlungsmittel, sondern Stimulans – Fiktionalisierungsmasse.

Im Wohlstand bewegt man sich daher nicht nur in Realitäten, sondern verstärkt in Optionen. Man verlagert sein Leben von der Gegenwart in die Zukunft. Das wirkt verjüngend; es bringt auf die Stufe eines Kindes, dessen Leben noch nicht festgelegt ist. Da Kapitalisten aber immer jung bleiben wollen und die Übernahme von Verantwortung als Verlust an Optionen begreifen, sind sie nicht einfach kindlich, sondern vielmehr kindisch.

Was aber bedeutet das für die Warenkultur? Die Produzenten stehen vor der großen Herausforderung, dass ihre Artikel sich gegen die Konkurrenz des Jokers „Geld“ – gegen dessen Fiktionswert – behaupten müssen. Die Warenwelt muss also ihrerseits erhebliche Fiktionalisierungsmassen aufbauen, um genügend attraktiv zu sein, damit die im Wohlstand Lebenden ihr Geld überhaupt ausgeben wollen. Sonst üben sie sich in dem in den letzten Jahren oft beklagten Konsumverzicht oder laufen zur „Geiz ist geil“-Fraktion über.

Im Extremfall ist ihnen dann die Summe, die sie nicht ausgeben, wichtiger als das, was sie kaufen. Wirbt ein Reisebüro für Reisen, bei denen man vierzehn Tage Urlaub zum Preis von neun, sieben oder gar nur fünf Tagen bekommt, verliert mancher Interessent – durchaus kindisch! – das Reiseziel aus den Augen und freut sich lieber darüber, wie viele Optionen – wie viel Geld und Zeit – er solchermaßen spart und wie viel Zukunft er daher noch vor sich hat.

Markenkult und Warenästhetik der letzten Jahrzehnte sind erst recht als Reaktion auf die Verführungskraft des Kapitalismus zu verstehen. Immer wieder geht es darum, den vom Kapital geweckten Jugendlichkeitsfantasien entsprechende Fantasien zur Seite zu stellen. So gibt es viele Produkte, die suggerieren, man gewinne mit ihrem Konsum an Möglichkeiten – an Kraft und Zeit. Die spektakulären Verjüngungsversprechen in Drogeriemärkten korrespondieren genau mit den Optionsmaximierungen, die das kapitalistische Denken umtreibt. So wird die Rendite von Shampoos und Bademitteln mit Adjektiven wie „energising“, „rejuvenating“, „invigorating“ oder „vitalising“ angepriesen; versprochen wird „reload“ oder „time defense“.

Der Wunsch, dass alles möglich bleibe – oder wieder möglich werde –, äußert sich häufig auch in einer niedlichen und verspielten, bunten und gut gelaunten – eben kindischen – Ästhetik. So wird in der Kosmetik-Werbung häufig mit Cremes oder einem Lippenstift gemalt: Statt die Substanzen in ihrer Anwendung – in ihrem Gebrauchswert – zu zeigen, werden sie lieber für lustvoll-zweckfreie Klecksereien verwendet oder einfach verschmiert. Zu sehen sind dann ebenso spontan wie locker wirkende Gebilde, die grenzenlose Freiheit ausdrücken sollen. Hier wird also allein der Fiktionswert betont. Dasselbe passiert, wenn man die Pflegesubstanzen in sanft mäandernden, scheinbar ins Schwerelose erhobenen Schlieren zeigt oder sie weichzeichnet: Die Produkte lösen sich dann in Leichtigkeit auf, wandern ins Reich der Möglichkeiten ab und lassen den Konsumenten in Optionen schwelgen.

Aber auch Spritzer, Strudel und Schäume bilden gerne den Hinter- oder Untergrund von Werbeanzeigen. Wolken und Wellen sollen nicht nur Dynamik und Reinheit signalisieren, sondern vor allem eine Aura von Fluidität schaffen und damit einmal mehr die Hoffnung auf ein jugendliches Alles-ist-möglich – darauf, immer flüssig zu sein – bestärken. Dass Wasser in seinen verschiedenen Aggregatzuständen ein so häufiges Sujet der Werbung ist, entspricht auch den Ergebnissen einer Untersuchung, wonach mit keinem anderen Motiv so stark die Vorstellung verbunden ist, man könne sein Leben von Grund auf erneuern.

Ihr lebensweltliches Pendant besitzen solche Inszenierungen in der Wellnesskultur, die ebenfalls vom Wasser in seinen vielen Metamorphosen lebt. Mit dem soften Exotismus diverser Baderituale weckt man bei den Kunden das romantische Gefühl, sie könnten alles Alltägliche und Determinierende hinter sich lassen und in eine märchenähnliche, reine Welt, eine Art Urheimat zurückkehren. Die Wellness-Industrie ist also Folge des Wunsches nach behüteter Kindheit und ewiger Zukunft. Am liebsten träte man in einen embryonalen Zustand, um noch alles vor sich zu haben. Am Ende der Infantilisierung verschließt man die Augen vor der Welt, spricht nicht mehr, sondern träumt nur noch.

WOLFGANG ULLRICH