village voice: Wie weiter auf der Techno-Baustelle? Rok und TV Victor gönnen sich eine Verschnaufpause
Hauptstadt der geraden Linie
Wie soll es weitergehen mit Techno? Der ganz große zündende Funken fehlt derzeit. Manirierter Frickeltechno langweilt längst, die Tönchenschieberei der Laptop-Fummler kommt innovationsmäßig auch nicht so recht weg vom Fleck, und Drum ’n’ Bass wartet gerade darauf, dass jemand den Sargdeckel über ihm zuklappt. Und dass in Deutschland demnächst einmal englische Verhältnisse aufkommen und alle fortan ihren Champagner zu 2 Step schlürfen, das glaubt irgendwie auch kein Mensch. Lediglich House bringt derzeit noch die Discokugel zum Glitzern.
Zeit für eine Verschnaufpause also. Abwarten, sich entspannen und sich vielleicht auch mal einen Rückblick gönnen. So wie Rok. Der ist anerkanntes Berliner Techno-Urgestein, seit über zehn Jahren als DJ und Producer dabei. Als solcher trägt er zum Ruf Berlins bei, die Hauptstadt der geraden Linie mit leichter Neigung zu Detroiter Härte zu sein. Und so ist das, was Rok macht, auch in höchstem Maße Tresor-kompatibel. Was nicht verwundert, schließlich – und dieses Anekdötchen kolportiert man immer wieder gerne – war Rok es auch, der vor beinahe zehn Jahren einen schmucklosen Betonbau von innen betrachtete und meinte, dieser ehemalige Tresor sollte auch als Club Tresor heißen. Und so kam es dann auch.
Auf seiner kleinen Werkschau „Defender“ finden sich Tracks, die sich über die Jahre hinweg angesammelt haben, darunter auch einer, der bereits bei Tresor Records erschienen ist. Aber Rok hat über die Jahre hinweg aber auch andere legendäre Techno-Baustellen bedient: Für Mottes ehemals recht einflussreiches Label Space Teddy hat er produziert, für die Low Spirit-Progressiv-Unterabteilung Müller und für DJ Hells International Deejay Gigolo.
An der Wahl der Labels erkennt man schon die Stoßrichtung Roks: Für den Dancefloor, klassische Ausrichtung, immer hart an der geraden Bassdrum, nie zu kommerziell, immer auf der Suche nach dem endgültigen Clubhit. Allein dadurch, dass seine Compilation ungemein kompakt daherkommt, qualitative genauso wenig wie musikalische Ausfälle zu finden sind und eine chronologische Entwicklung nicht erkennbar ist, wird deutlich, dass Roks Techno sich all die Jahre eher mit der Frage nach der eigenen Funktionslogik beschäftigt hat als damit, irgendeinen Quantensprung hinzubekommen.
Techno ist, wenn man dazu tanzen kann, so das Rok’sche Diktum. Und weil das nachhörbar schon seit zehn Jahren so ist, wird das auch in tausend Jahren noch so sein. Mit dem Titel „Defender“ ist wahrscheinlich Rok selbst gemeint: er, der Verteidiger der reinen und wahren Technolehre.
Wenn Rok der strikte Sein-Ding-Durchzieher ist, dann steht TV Victor eher für das Modell Eremit, in dessen Klause Zeit und Raum keine festen Größen mehr sind, und der die Suche nach ewiger Weltentfremdung schon weitestgehend abgeschlossen hat. Hinter TV Victor steckt Udo Heitfeld, der schon seit den Siebzigern dabei ist, sein eigenes Karma abzutasten und seine Seele in akustische Schwingungen zu versetzen. Früher stocherte er mit dem No Zen Orchestra in hypnotischem Räucherstäbchen-Gewaber, und vor sieben Jahren veröffentlichte er die Dreifach-CD „Trancegarden“, die ein wenig wie ihr Titel klingt. Schon dieses Manifest des ambientösen Wohlklangs ließ er sich von Chain Reactions Großwesir des dubbigen Knistertechnos Moritz von Oswald koproduzieren.
Auf seiner neuen Doppel-CD, die nochmals zwei Tracks von damals enthält, setzt sich diese Zusammenarbeit auf dem neuen Stück „Agai“ fort. „Agai“ lediglich einen Track zu nennen wäre allerdings eine grenzenlose Untertreibung: Das Ding ist das Nichts in der Endlosschleife. Satte siebzig Minuten lang wird hier die Definition von Minimalismus in ganz neue Sphären entführt. Eine volle CD lang tuckert es fast schon hysterisch gleichförmig vor sich hin – New-Age-CDs mit dem Versprechen „So klingt der Urwald“ sind Herzschrittmacher dagegen. Erstaunlicherweise klingt diese Vertonung von Endlosigkeit nie nach reiner Afterwork-Entspannungssoße, sondern pulsiert wie eine Metapher für das Leben selbst. Auch das Leben ist stets einförmig und aufregend gleichzeitig. Nur der eigene Blick darauf, als simulierte Wahrnehmung von außen, verändert sich ständig.
In den insgesamt drei Tracks dieser Doppel-CD, denen man wie den Rok-Tracks die unterschiedliche Entstehungszeit kaum anmerkt, verfangen sich zwischen den stoischen Beatimpulsen ständig irgendwelche mäandernden Soundgeflechte als Spannungsgeneratoren. Es hängt nur von einem selbst ab, ob man sich durch eine oberflächliche Wahrnehmung von der gesamten Soundtapete einlullen lässt, oder ob man bereit ist, sich näher mit den raffinierten Ornamenten und dem Muster dieser Tapete auseinander zu setzen. Am Ende kommt man jedenfalls bei beiden Varianten vor allem bei sich selbst an, hat die Geschwindigkeit seines eigenen Pulses unbemerkt mit der des Dauer-Beats synchronisiert und gibt sich der Träumerei nach eschatologischer Jenseitigkeit hin. Techno? Was war nochmal Techno?
ANDREAS HARTMANN
Rok: „Defender“ (Müller/EFA) TV Victor „Timeless Deceleration“ (Tresor/EFA)
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