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village voiceNeu veröffentlicht: die Telefunken-Einspielung der „Dreigroschenoper“ von 1930

Brecht singt selbst

Was Musicals betrifft, so hat Deutschland seit Jahrzehnten der Welt nicht viel zu bieten. Man muss schon weit zurückgehen, bis man auf ein Bühnenwerk dieser Gattung stößt, das auch im Ausland erfolgreich war. Wahrscheinlich bis in die Fünfzigerjahre. Da nämlich entdeckte man am Broadway „The Threepenny Opera“, spielte sie gleich sieben Jahre en suite und setzte damit den Welterfolg dieses Singspiels von Bert Brecht und Kurt Weill fort. Denn begonnen hat der gleich nach der Uraufführung im August 1928. Weil der neue Betreiber des Theaters am Schiffbauerdamm (dem heutigen Berliner Ensemble) ein publikumswirksames Eröffnungsstück suchte, adaptierte ihm Brecht kurzerhand John Gays altenglische „Beggar’s Opera“ aus dem Jahre 1728. Weill komponierte die Songs dazu.

Gerade mal drei Monate hatten sie hierfür Zeit. Bereits im Januar 1929 wurde das Stück an 18 weiteren Bühnen gespielt, und jeden Monat kamen neue Inszenierungen hinzu: in Budapest, Paris, in Wien wie in Prag. Weills Kompositionen mit ihren gebrochenen Akkorden, den Jazzanleihen, Reminiszenzen an die Modetänze seiner Zeit – von Tango über Blues bis zum Foxtrott – schöpften aus dem Arsenal der Unterhaltungsmusik, um diese zugleich konsequent zu brechen. Doch auch wenn sich die Musik damit über die vorherrschende populäre Musik gewissermaßen lustig machte, ihr das Gefällige, Ohrenschmeichelnde nahm – die Songs Kurt Weills wurden zu wahren Gassenhauern.

Die Nachfrage war sogar so groß, dass innerhalb weniger Jahre mehr als 40 verschiedene Plattenaufnahmen erschienen, zum Teil auch in gemäßigten Instrumentalfassungen für die Tanzlokale. Die umfassendste und dabei auch werkgetreuste Einspielung entstand im Dezember 1930 für Telefunken. Die Mitwirkenden stammten fast ausschließlich aus Erich Engels Uraufführungsinszenierung: Lotte Lenya (die hier sowohl die Lieder der Polly wie der Jenny sang), Kurt Gerron, Erich Ponti, Erika Helmke und Willi Trenk-Trebitsch. Eigens für diese Plattenaufnahme schrieb Brecht vor jeden Song Moderationstexte, die wie Filmzwischentitel wirkten.

Weil parallel bereits am „Dreigroschenoper“-Film gearbeitet wurde, verwendete Brecht für die Plattenaufnahme auch die für die Verfilmung geschriebenen neuen Schlussverse des Stücks. Kurt Weill instrumentierte außerdem die Musik neu und erweiterte das Orchester. Das Plattenlabel Teldec, das über das Archiv von Telefunken verfügt, hat sich für die aufwändig gestaltete Wiederveröffentlichung nicht allein auf diese Aufnahmen beschränkt, sondern einige Lieder aus dem direkten Umfeld hinzugenommen.

Neben Brecht als Interpret etwa der „Moritat vom Mackie Messer“ und Lotte Lenya mit Liedern aus „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ sind die Songs aus der „L’Opera de Quat’Sous“ (unter anderem mit Albert Préjean und Margo Lion) eine besondere Rarität. Vom „Dreigroschenoper“-Film drehte man 1930 nämlich parallel gleich auch eine französische Version, die Lieder wurden ebenfalls mit Theo Mackeben und seiner Lewis Ruth Band eingespielt. Einige Kabarettschlager wie Rudolf Nelsons „Nachtgespenst“, Friedrich Hollaenders „Guck doch nicht immer nach dem Tangogeiger hin“ und Wilhelm Grosz’ „Vom Seemann Kuttel Daddeldu“ skizzieren noch einmal die viel beschworene glanzvolle Szene der Berliner Unterhaltungskunst der frühen 30er-Jahre. Gesungen werden sie unter anderem von Kurt Gerron und Curt Bois.

Fast alle der Beteiligten – von Weill über Brecht, von Gerron bis Nelson – gingen ab 1933 ins Exil oder fanden den Tod im KZ. Binnen weniger Jahre war eine progressive Kunstszene ausgelöscht. Diesen radikalen Bruch mit einer Tradition ohne direkten Erben spüren wir bis heute.

AXEL SCHOCK

„Die Dreigroschenoper Berlin 1930 – Songs & Chansons“ (Teldec/Warner Music Group)

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