verhandlungssache: Indien, das Land wo Milch und Software strömen
Wo die Fallstricke der deutsch-indischen Beziehungen liegen, wurde gleich zu Beginn der wöchentlichen Ringvorlesung „Konzepte von Diplomatie – Berliner Botschaften stellen sich vor“ klar. Da hatte sich die ehrwürdige Alma Mater in ihrer Ankündigung doch völlig mit dem Namen Seiner indischen Exzellenz verheddert. Richtig heißt der Herr, der das zweitvolkreichste Land dieser Erde in Berlin vertritt, Anandan Rangachari. Kenner der indischen Namenskunde wissen, dass dieser Name aus dem drawidischen Süden des Landes, aus Tamil Nadu stammt, wo Herr Rangachari auch geboren wurde. Der in einem traditionellen Männer-Habit, bestehend aus weiten Hosen und einer knielangen Weste, referierende Botschafter ist ein klassischer Karrierediplomat: In Delhi studiert und ab in den auswärtigen Dienst. Wurden früher fast nur Geisteswissenschaftler in den diplomatischen Dienst der mit 620 Millionen WählerInnen größten Demokratie der Welt berufen, zollt Mother India ihrem exzellenten Start-up-Ruf nun auch in der Auswahl ihres repräsentativen Personals Respekt. Zunehmend ergreifen Naturwissenschaftler, Ärzte und Ingenieure das diplomatische Portefeuille. Aber kein Wort davon, ob es notwendig ist, zur richtigen Kaste zu gehören, oder was sich der Europäer halt so denkt.
Einen typisch indischen Weg zur geschickten Verhandlung mit anderen Staaten scheint es jedenfalls nicht zu geben, meint Herr Rangachari. Die Ausführlichkeit seiner Vorlesung lässt allerdings vermuten, dass Corps-Probanden einen ausgeprägten Spaß an Statistik mitbringen müssen. Die rund zweihundert Zuhörer erfuhren nämlich Erstaunliches. Der Subkontinent ist nämlich nicht nur zahlreich an Menschen, sondern zum Beispiel auch an besonderen Pflanzensorten, genau 120.000, die Pestizid-Charakter haben. Man spricht in Indien rund 105 Sprachen, zu vier verschiedenen Sprachfamilien gehörend. Rund 30 Prozent aller Software-Arbeiter der Welt kommen aus Indien. Der Kontinent ist nicht nur der weltweit größte Filmproduzent, sondern auch größter Milchproduzent, mit rund einer Million Liter täglich. Außerdem größter Produzent von Bananen, Mangos und Cashew-Nüssen. Auch weltgrößter Ingwer-Produzent. Beim Reis liegt Indien nur an zweiter Stelle. Ebenso in der Fahrrad-Produktion, die „nur“ bei 12 Millionen Stück pro anno liegt. Die rund eine Milliarde InderInnen können sich auf 90 Fernsehkanälen und in mehr als 16.000 Zeitungen informieren. … Herr Rangachari vergaß bei seiner Aufzählung keine Branche, eine Fülle, die mitzuschreiben kaum gelang.
Gedanken an ein verarmtes, krankheitsverseuchtes, katastrophengeschütteltes Indien fegte der Botschafter damit allemal aus den Köpfen der Zuhörenden. Indien als statistisches Spektakel! Ist das das Wesen der indischen Diplomatie?
ADRIENNE WOLTERSDORF
Nächste Woche referiert Sir Paul Lever, Botschafter des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland. Donnerstag, 18 Uhr c.t. im Senatssaal der HU.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen