piwik no script img

unterm strich

Foto: Tien Nguyen

Süchtig nach Geschichten

Am Sonntag wird die österreichische Dokumentarfilmerin Elizabeth Spira (75) mit dem Lessing-Preis für Kritik 2018 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ausgezeichnet. Sie sei eine „Grande Dame einer schonungslosen österreichischen Selbstbetrachtung“, begründete die Jury. In ihren Beiträgen zeige sie ein einzigartiges, von anderen unerreichtes Talent, Menschen zum Sprechen zu veranlassen. Die Filmemacherin und Publizistin ist durch ihre Reportagen für den ORF auch außerhalb Österreichs bekannt. Ihre Filme stellen Personen aus dem ganzen Spektrum der österreichischen Gesellschaft vor, nicht selten aus sozial einfachsten Verhältnissen, ohne sie dabei vorzuführen. Dazu gehören auch brisante Aufnahmen von Stammtischgesprächen mit rassistischen und antisemitischen Äuße­rungen.

Spira wurde 1942 als Kind jüdischer Emigranten im schottischen Glasgow geboren. Vier Jahre später siedelte die Familie nach Wien über. Dort promovierte Spira 1970 im Fach Publizistik. Für die 60-teilige Dokumentarreihe „Alltagsgeschichte“ porträtierte sie zwischen 1985 und 2006 zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher. Sich selbst bezeichnete Spira als eine „süchtige Geschichtensammlerin“. Der Lessing-Preis für Kritik ist mit 15.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre von der Lessing-Akademie Wolfen­büttel und der Braunschweigischen Stiftung verliehen.

„Rampe Mitte“ ist ihr Ort

Frau Balicke hat strenge Prinzipien, Ordnung und Nützlichkeit stehen ganz oben. Doch wenn sie Kirsch getrunken hat, steigt in ihrem Körper eine befremdliche, beängstigende Ekstase auf, alles Verklemmte beginnt laut zu klappern. Wiebke Puls spielt diese Frau Balicke in Brechts „Trommeln in der Nacht“ an den Münchner Kammerspielen, eingeladen zum Theatertreffen in Berlin. Dort wurde der Schauspielerin nach dem Gastauftritt am Donnerstagabend der 3sat-Preis verliehen. „Ob naturalistisches Reenactment, expressiv-komödiantisch oder als Klangkörper für Brechts Sprache. Immer begibt sie sich voll und ganz in ihre Rolle“, schrieb die Jury.

Wiebke Puls, geboren 1973 in Husum, hat in Hamburg und Hannover gespielt, seit 2005 gehört sie zum Ensemble der Münchner Kammerspiele. Wer sie auf der Bühne gesehen hat, vergisst sie nicht, ihre immer auch ironisch geprägte Präsenz, die das Schauspiel mit Genuss zelebriert, sich aber auch ungeheuer schmal machen kann. „Rampe Mitte“, das ist ihr Ort, sagte die Journalistin Shirin Sojitrawalla in ihrer Laudatio und beschrieb eine Szene aus „Der Vater“: „In einem waghalsigen Schlussmonolog zertrümmert sie das Mobiliar und zieht unterschiedliche Stimmen in ihrer eigenen zusammen, von kindlich kehlig bis breitbeinig brutal. Eindeutige Geschlechteridentitäten jagt sie zum Teufel, treibt ihre Figur nach allen Regeln der Kunst in den Wahnsinn und rührt uns zu Tränen damit.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen