piwik no script img

ulrike herrmann über Non-Profit„Mein Drache isst Pflaumen!“

Pippi Langstrumpf mögen nur Erwachsene. Aber ich träumte lieber von Bullerbü. Da war es wie bei uns

„Ich heiße Lisa. Ich bin ein Mädchen. Das hört man übrigens auch am Namen. Ich bin sieben Jahre alt und werde bald acht.“ So beginnt „Bullerbü“, so harmlos, aber es veränderte meine Kindheit. Denn ich war auch sieben Jahre alt, als ich zum ersten Mal Astrid Lindgren las.

Jeden Abend kehrte ich nach Bullerbü zurück, an diesen Ort der Sehnsucht, wenn ich schlafen sollte, aber heimlich die Leselampe anknipste.

Andere Bücher interessierten mich nicht. Schon gar nicht wollte ich mit Pippi Langstrumpf zu tun haben. Was sollte ich mit einem Pferd auf der Veranda? Und mit einem Affen, der Nilsson hieß? Das gab’s doch gar nicht. Das konnten nur Erwachsene toll finden, die immer denken, dass Kinder eine blühende Fantasie haben.

Meine Fantasie war aber bescheiden. Ich wollte mir selbst begegnen – in einer noch heileren Welt. Wollte Sätze lesen wie auf der zweiten Seite von „Bullerbü“: „Ich habe keine Schwester. Darüber bin ich sehr traurig. Jungen sind so beschwerlich.“ Genau! Wie Lisa hatte ich zwei Brüder, die sich gern über mich lustig machten.

Jeden Abend träumte ich mich hinein in die drei Bauernhäuser, die einsam auf einem Hügel in Schweden stehen. Links im Nordhof wohnen Britta und Inga, rechts im Südhof lebt Ole – und im Mittelhof, da sind Lisa, Lasse und Bosse zu Hause. Alle sind sie zwischen sieben und neun Jahre alt und „alle drei Höfe liegen in einer Reihe“. Wie in unserer Reihenhaussiedlung! Da war auch jedes Haus mit Kindern gefüllt, nur dass uns leider kein Wald umgab, sondern die Großstadt Hamburg.

Aber das ignorierte ich. Was ich nachts las, spielte ich am Tag.

Wenn Lisa, Britta und Inga zwischen Nordhof und Mittelhof eine Schnur spannten und daran eine Zigarrenkiste befestigten, in der sich Briefe transportieren ließen, dann machten wir das zwischen unseren Reihenhäusern auch. Bildeten uns genauso ein, „wir wären Prinzessinnen, die in zwei Schlössern gefangen wären und nicht hinauskonnten, weil Drachen uns bewachten.“ Und wie Lisa war mir meine Unterschrift am wichtigsten, wenn ich aus meiner Drachenhaft berichtete: „PRINZESSIN ULRIKE“. Darüber standen so interessante Mitteilungen wie: „Mein Drache ist furchtbar wild, aber er beißt nicht, wenn ich ihn mit einer Banane füttere.“ Die Antwort von gegenüber lautete: „Meiner isst lieber Pflaumen. PRINZESSIN MAREN“.

Oder Blinkzeichen mit der Taschenlampe. Dreimal bedeutete: „Kommt sofort her, ich muss euch etwas erzählen!“ Das leuchtete sofort ein und wir leuchteten auch.

Wenn wir Weihnachtsplätzchen buken, dann wollte jeder von uns Geschwistern nur mit dem Schweinchen ausstechen. Weil wir gelesen hatten, dass sich Lisa, Bosse und Lasse auch immer um die Schweinchenform stritten. Und den Teigrest kneteten wir ebenfalls zu einem „Preisrätselkuchen“, den wir bunt bestreuselten. Dann füllten wir Reiskörner in ein Glas – wer ihre Zahl richtig schätze, der durfte sich das knallsüße Gebäck in den Mund stopfen.

Es gab ein Kapitel, das ich immer las, wenn ich heulen wollte. Es war so schön, unter der Bettdecke zu liegen und zu heulen. Es war die Geschichte von Swipp, dem Hund von Ole. Er hatte früher dem Schumacher im nächsten Dorf gehört, der Nett hieß – „aber er ist kein bisschen nett … Swipp bekam oft Prügel, obwohl er ein Hund war und kein Kind … Und wenn Nett betrunken war, vergaß er, Swipp etwas zu essen zu geben.“ Also fütterte Ole den Hund, obwohl der so böse bellte. „Und schließlich knurrte Swipp ihn nicht mehr an … leckte Ole die Hand.“ Spätestens jetzt war mein Gesicht tränennass. Aber ich konnte noch zwei Seiten weiterheulen, während ich die Windungen der Geschichte verfolgte, bis endlich Oles Vater zu Nett geht und ihm Swipp abkauft.

Dass Bullerbü aber auch eine Geschichte der Rollenklischees ist, das habe ich damals nicht wahrgenommen. Lasse will Mechaniker werden, Bosse Indianerhäuptling. Lisa kommentiert: „Ich weiß nicht recht, was ich werden will. Vielleicht eine Mutti.“ Das verstand ich. Mutti wollte ich auch nur vielleicht werden – aber etwas anderes schien ja für Mädchen nicht denkbar zu sein. Und wurde deshalb auch nicht gedacht. „Ich weiß nicht recht“: Mehr fiel mir auch nicht ein.

Ich war wie Lisa. Und so dachte ich jeden Abend, wenn ich nach Bullerbü zurückkehrte, genau das Wort, mit dem die Trilogie endet: „Jajajaja!“

Fragen zu Non-Profit?kolumne@taz.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen