tour de lance : Geist in Gelb
Warum Jan Ullrich die Tour de France gar nicht mehr gewinnen kann
Ein bisschen irritiert hat der Satz, aber nach drei Wochen im Sattel wird es wohl so sein, dass nicht nur der Hintern ein wenig aufgewetzt ist, sondern schon auch das Hirn. Also darf man es Jan Ullrich nicht wirklich verübeln, dass er, noch bevor die diesjährige Tour de France auf die Champs Élysées gerollt war, bereits seinen Wiedergang angekündigt hat. Gesagt hat Uns Ulle: „Ich fahre die Tour so lange, bis ich sie noch einmal gewonnen habe.“
Das kann unter Umständen dauern – und zu einem gefährlichen Unterfangen werden. Man stelle sich nur einmal vor, Ullrich gewänne auch im nächsten Jahr nicht und im übernächsten auch nicht und schon gar nicht im überübernächsten. Ulle könnte also alt werden über seinem eigenen Satz – und spätestens dann wird der Satz noch gefährlicher, weil im Alter doch die Haare erst grau und später auch noch weiß werden, schlohweiß – und wie leicht könnte man Ulle dann für den Dr. Emig halten und ihn einsperren, weil Ulle, nur so zum Beispiel, ein paar Fahrräder seines Rennstalls unter der Hand an Fremde verscherbelt hat.
Und überhaupt: Warum will der Kerl so unbedingt noch einmal diese verdammte Schleife gewinnen, wo es ihm doch schon das erste Mal nichts als Ärger einbrockt hat? Schließlich erwartet die ganze Welt oder doch zumindest ganz Deutschland erst seit diesem verfluchten Tag, dass er es wieder tut, immer und immer wieder, so wie der verrückte Texaner. Hätte der nette Herr Ulle damals aber nicht gewonnen, wäre ihm vieles erspart geblieben, zum Beispiel, dass er beim schwersten Radrennen der Welt bei acht Starts sieben Mal aufs Podest der besten drei radelt – und sich im Anschluss doch als faule Sau beschimpfen lassen muss. Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern; zum tragischen Helden, der es immer wieder versucht – und immer wieder knappest scheitert, taugt Ullrich einfach nicht mehr – dafür hat er einmal zu viel gewonnen.
Der in Rostock geborene Ex-Merdinger steckt diesbezüglich wirklich im Dilemma. Und wie gut ist es da, dass er Freunde hat, echte, gute Freunde, die ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen in guten wie in schlechten Tagen, so wie der verrückte Texaner. „Ein bisschen weniger Gewicht und ein wenig mehr Kondition, und er könnte die Tour noch mehr als einmal gewinnen“, hat der gerade gesagt – und wie ein Blitz aus heiterem Himmel ist einem der Gedanke gekommen: Jawoll, so, und nur so könnte es gehen …
Wobei: Manchmal sind solche Blitzgedanken ziemlich unfertig, und wenn man sie dann in den Gehirnwindungen hinschiebt und wieder herschiebt und sie unter all der Schieberei schließlich gewachsen und gereift und fertig geworden sind, erkennt man, dass es gar keine guten Gedanken waren, sondern ziemlich dumme. Denn selbst wenn Ulle nächstes Jahr nach ranker und schlanker und mit noch mehr Puste an den Start gehen und dieses blöde Rennen tatsächlich gewinnen sollte, wäre er doch nur wieder Zweiter. Weil: Seit diesem Sonntag hat es Ulle mit einem Gegner zu tun, den es real so gar nicht gibt, sondern mehr imaginär, als Geist quasi. Geister aber kann man nicht besiegen. Schon gar nicht, wenn sie aus Texas kommen und gelbe Trikots tragen. FRANK KETTERER