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Archiv-Artikel

theorie und technik Die Irrationalität, die uns alle im Kern verbindet

Das Bekenntnis zur Demokratie ist von einem Glauben geleitet – und sei es auch nur der an den leeren Ort der Macht

1912 veröffentlichte Ferdinand Tönnies „Gesellschaft und Gemeinschaft“ – und prägt mit dieser titelgebenden Unterscheidung seit nahezu hundert Jahren die politische Diskussion. Wir verstehen unter „Gemeinschaft“ ein soziales Ganzes mit organischem Zusammenhalt seiner Mitglieder, eine traditionale Ordnung, deren Zugehörigkeit nicht auf einer rationalen Willensentscheidung beruht. Während „Gesellschaft“ die willentliche Verbindung von atomisierten Individuen ist. Dieser Zusammenschluss setzt nicht nur einen vollzogenen Individualismus voraus, sondern verlagert auch die Beziehungen seiner Akteure auf eine rationale Ebene. Diese Differenz bestimmt noch heute unser Verständnis von Konflikten – wie etwa jenem zwischen dem Westen und dem Islamismus: Hie Gemeinschaft, da Gesellschaft. Hie Freiheit, aber keine Bindungskräfte, da das genaue Gegenteil. Es scheint an der Zeit, diese Unterscheidung etwas zu revidieren.

Der Gegensatz westliche Demokratie – theokratische Herrschaft ist nicht jener zwischen gemeinschaftlichem Glauben und gesellschaftlicher Rationalität. Denn auch ein „rationales“ Gemeinwesen ist um ein „zentrales Imaginäres“ (Cornelius Castoriadis) herum organisiert. Der Bezug zu solch einer Ordnung ist also ein Bezug zu einem Imaginären, ein imaginärer Bezug – anders gesagt: ein Glaube. Eine religiös aufgeladene politische Ordnung beruht in der Tat auf keiner bewussten Willensentscheidung, aber sie braucht einen bewussten Glauben. Die rationale Demokratie hingegen bedarf – im Gegensatz zur vorherrschenden, Tönnies’schen Vorstellung von Gesellschaft – ebenfalls eines Glaubens, wenn auch eigener Art. Die Differenz ist also eine zwischen verschiedenen Glaubensarten.

Von ihrer symbolischen Konstitution her ist die Demokratie westlicher Prägung bestimmt durch den vielzitierten Lefort’schen Topos, wonach ihr Ort der Macht leer sei. Das bedeutet zweierlei: zum einen, dass es keinen Repräsentanten gibt, also keine Person – wie etwa einen Monarchen –, der zugleich eine Institution ist, in der sich die Gesellschaft als vereinte erkennen kann. Zum anderen aber bedeutet es, dass es auch in der Demokratie diesen nichtrealen, diesen symbolischen „Ort“ der Souveränität noch gibt – auch wenn er nicht mehr gefüllt ist. Dies mag sehr abstrakt klingen, und doch bestimmt es den Bezug aller demokratischen Subjekte zur politischen Ordnung, in der sie leben. Und dies nicht etwa durch ein verallgemeinertes Verstehen dieser symbolischen Logik.

Statt einer Verkörperung der Macht besteht die Demokratie aus einem System von Institutionen: Wahlen, Parlament, Mehrheitsentscheidung. Warum funktioniert dieses aber? Warum folgen ihm die Individuen? Weil es ihren Interessen dient, wie Tönnies meint? Kann solche Zweckrationalität tatsächlich der Grund dafür sein, dass atomisierte Individuen eine dauerhafte, verpflichtende Verbindung eingehen? Man muss vielmehr davon ausgehen, dass es eines, wenn nicht unser aller „Glauben“ an die Demokratie bedarf, der aber, weil er Glaube an eine Leere, an ein nichtbesetztes Zentrum, ein unbewusster Glaube ist. Ein Glaube, der sich selbst nicht als solcher weiß, aber dadurch wirkt, dass er den Institutionen der Demokratie jene Bedeutung verleiht, die die Individuen zu deren Anerkennung bringt.

Im Unterschied zum bewussten Glauben von Gemeinschaften wird hier nicht die Macht, sondern ihre Abwesenheit repräsentiert. Dieses Paradox funktioniert gerade über seine Unmöglichkeit: Die „Repräsentation“ der Leere äußert sich dadurch, dass sie jede tatsächliche Repräsentation „entleert“, also defizitär erscheinen lässt. Der unbewusste Glaube an die Demokratie ist der „Glaube“ an diesen grundlegenden Mangel, wodurch das System der Institutionen erst seine Bedeutung erhält. Das ist die Grundlage dieser rationalen Gesellschaftsordnung – eine doppelte Irrationalität, ein Glaube, der noch dazu unbewusst ist.

Unsere Gesellschaft ist also keine Gesellschaft im Tönnies’schen Sinn. Dies ist sowohl für die Auseinandersetzung mit anderen Ordnungen wie für unser Selbstverständnis von Bedeutung. Es gibt eigene Bindungskräfte der Demokratie. Es ist nicht das, was andere haben und was uns fehlt. Wir müssen sie nicht anderswoher – etwa von der Religion – leihen. Wir produzieren unsere Irrationalität schon selbst. Es ist an der Zeit, sich dies einzugestehen, weil dieser Mangel an Rationalität heute keine Schwäche, sondern eine Stärke ist. ISOLDE CHARIM