themenläden und andere clubs: Der Herbst als anthropologische Konstante
Verwehte junge Nostalgiker
Der Herbst ist über das Land hereingebrochen, wie welkes Laub wirbelt nun der Wind die jungen Leute durch die Straßen. Wie immer sind sie auf der Suche nach Antworten und Abenteuern. Doch keine Trends stellen sich ihnen in den Weg, keine interessanten Ablenkungen scheinen auf. Bestenfalls Phänomene flackern für kurze Momente vor ihren Augen. Verwirrt und erregt ziehen die jungen Leute weiter, stecken ihre Nasen in Clubs und Bars und Discotheken und Galerien. Neugierig lassen sie ihre Blicke kreisen, doch meist finden sie nichts, was ihnen gefällt. Dann lassen sie den Kopf hängen, nehmen noch einen tiefen Zug von ihren starken Zigaretten, wischen sich hinterher den Rauch aus dem Gesicht, begeben sich anschließend nach Hause und gehen die nächsten zwei, drei Wochen nicht mehr vor die Tür.
So ungefähr geht es in diesen Tagen zu, es ist eine trostlos einsiedlerische Zeit melancholischer Einkehr. Die Folgen wiegen schwer. Es werden mehr Bücher gelesen als üblich, die Betroffenen geraten ins Grübeln, der Teeverbrauch steigt um immerhin 40 Prozent. Aufgrund der gewissermaßen unausweichlichen Wucht wurden für diesen bedauerlichen Zustand schon viele Namen gefunden – Cocooning und Nesting sind die bekanntesten. Der betont exotische Klang möchte dabei dem durch und durch grauen Zeitvertreib einen ansatzweise bunten Anstrich geben und damit etwas Trendgerechtes. Doch vergeblich. Der jährliche Rückzug im Herbst ist kein Trend, er ist einfach nur langweilig. Vermutlich ist er eine anthropologische Konstante und demzufolge eine Last. Hoffen wir, dass die modernen Technologien bald Abhilfe schaffen.
Doch gemäß der Faustregel, dass jeder Trend notwendigerweise einen Gegentrend erzeugt, hat auch der Schein-Trend Nesting seine unmittelbaren Folgen. An dieser Stelle wären unter anderem Extreme Dating sowie Wochenendreisen an die italienische Riviera zu nennen. In der Berliner „Szene“ hingegen erlebt derzeit ein beinah vergessenes Brettspiel seine Renaissance: Es trägt den schönen Titel MasterMind und wird von jungen Leuten gespielt, die sich um kleine Tische versammeln. Weil das Spiel den deutschen Titel Superhirn trägt, nennt man diese Art von Zeitvertreib unter der Hand gern „Hirning“.
MasterMind ist jenes Gesellschaftsspiel, in dem es darum geht, eine bestimmte Farbfolge zu erraten. Mit einem anderen, aber irgendwie ähnlichen Problem hat ein Mann aus unserer Mitte zu kämpfen. Er mag weder Nesting noch Hirning, noch mag er den Herbst. Eigentlich will er nur vor die Tür. Er hat sieben Hosen in seinem Schrank, für jeden Tag der Woche eine, für jeden Wochentag eine bestimmte. Doch gestern war Donnerstag, und er wusste nicht mehr, welche er anziehen sollte. HARALD PETERS
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