themenläden und andere clubs: Freiluftfestivals sind für alle Beteiligten keine Freude
Bemalte Kindergesichter
Wer hat eigentlich das Open-Air-Festival erfunden? Wem haben wir diese Plage der Menschheit zu verdanken? Irgendjemand muss sich doch mal gedacht haben: Wäre es nicht cool, wenn so Bands auf so ’nem Acker zwischen übergelaufenen Dixie-Klos im Matsch stehen und Musik spielen? Es liegt zunächst nahe, die Hippies und Woodstock für die Open-Air-Pest verantwortlich zu machen. Aber wurden die wiederum nicht durch Woody Guthrie und die deutsche Arbeiterbewegung mit ihrem „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ inspiriert? Wahrscheinlich liegt die Wurzel des Übels weiter zurück: Sehr gut möglich sogar, dass Jean-Jacques Rousseau mit seiner albernen Forderung „Zurück zur Natur“ die Urschuld an der Unsitte trägt. Man könnte auch gleich die alten Griechen mit ihren Amphitheatern für die Folgeschäden belangen. Darüber sollte mal jemand arbeiten . . .
Dabei ist ein Open Air oder „Open Ohr“ oder „Melt“ ja nicht nur für die Zuschauer schlimm. Die zahlen sogar Geld, um sich in selbst verschuldete Unmündigkeit zu begeben. Schlimm ist es für arme Musikgruppen, die sich auf Freiluftveranstaltungen ihren Hungerlohn erspielen müssen. Reden wir nicht über die Anreise in unklimatisierten Billigtransportern, nicht vom Ferienende in vier Bundesländern und gefaxten Stadtplänen, die keine Ähnlichkeit mit der Realstadt haben.
Trifft man zum Beispiel nach zehnstündiger Fahrt plus mehrmaliger Umkreisung und Durchquerung Wiesbadens im Stadtteil Freudenberg ein, wäre jede Ankommensfreude verfrüht. Denn ein mittelalterliches Gesetz besagt, dass um jedes noch so kleine Festival 150 Kilometer Gitterzaun verbaut werden müssen. Die wichtigsten Menschen bei so einem Festival sind nämlich die Absperrer. Sie tragen wunderschöne schwarze T-Shirts, auf denen hinten in großen, weißen Lettern „Crew“ steht. An ihren imposanten Gürteln baumeln halbmeterlange Funkgeräte, Taschenlampen und zusätzliche Hochgebirgsausrüstung. Natürlich tragen sie auch kleine Mobiltelefone im Ohr. Bevor man durchfahren darf, müssen in Konferenzschaltungen langwierige Absprachen getroffen werden.
Bands mit vorwiegend weiblicher Geschlechteridentität haben oft das Vergnügen, nicht im „Musikzelt“, wo coole HipHopper, Breakdancer oder anerkannte Politrocker abhängen, sondern im kleineren „Frauenzelt“ zu spielen. Dort, abseits vom Rummel, haben wohlmeinende Feministinnen „Frauen-Bilder“ aus Märchenbüchern (Rapunzel usw.) abgepaust, in Aquarell getaucht und an die Zeltwand gepinnt. Gerne tritt an solchen Orten auch eine politische Kabarettgruppe auf. Besonders schlimm ist es, wenn das Frauenzelt nachmittags der Kinderbelustigung diente und einen abends beim Auftritt bemalte Kindergesichter aus der ersten Reihe anglotzen. Da ist es tröstlich, wenn man am nächsten Tag, etwa beim Frauenabend in Duisburg, andere Bands, Berlinerinnen trifft. Ach, denen ist es auch nicht besser ergangen. Bei Hanayo war die Autobahn gesperrt, die Chicks hatten eine Panne und Frau Morgensterns Mixer war von einer Biene in den Hals gestochen worden. Das verbindet. Man erzählt von zu Hause, vom Bergstübl und vom Wetter, spielt ein bisschen, betrinkt sich und packt frühmorgens alles wieder ein. Zwölf Stunden später ist man wieder im herbstlichen Berlin und zehrt noch lange vom vergangenen Open-Air-Sommer. CHRISTIANE RÖSINGER
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