the great deflator von JOACHIM SCHULZ :
„Da!“, rief Raimund und blickte von der Zeitung auf: „Ich wusste, dass es mit ihm kein gutes Ende nimmt!“ Die Sonne schien durch die Fenster des Café Gum und strahlte ihn schräg von der Seite an, weshalb seine triumphierende Miene einen besonders dramatischen Ausdruck bekam. Ich hingegen hatte keinen blassen Schimmer, wovon er sprach, und daher stand in meiner Miene allenfalls ein stummes „Hä?“ geschrieben, so dass Raimund vorlas: „,Gestern verhaftete die Polizei den Grafiker Björn R. in seiner Wohnung. R. wird verdächtigt, unter dem Namen ‚The Great Deflator‘ 44 gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr verübt zu haben.‘“
The Great Deflator versetzte seit zwei Monaten die Radfahrer der Stadt in Angst und Schrecken. Maskiert wie einst Zorro stürzte er sich auf Radler, die an roten Ampeln warteten, ließ ihnen kichernd die Luft aus den Reifen und drückte ihnen zum Abschied eine Karte in die Hand, auf der ein Gruß wie „Pffft! – The Great Deflator“ oder „Gnihihi! – The Great Deflator“ stand. Anfangs fanden das viele lustig. Bald aber begannen die Ersten darüber zu spekulieren, ob die Deflationsattentate nicht nach einem bestimmten Muster erfolgten. Manche sahen ihren Ablauf irgendwo im ersten Buch Samuel vorgezeichnet, andere meinten, der Luftrauslasser folge einem Schema aus dem „Nekronomikon“ des wahnsinnigen Abu al-Hazred – einig indes war man sich darüber, dass eine Eskalation unmittelbar bevorstehe und der Verrückte die Radler schon bald mit Speer oder Säbel aus den Sätteln holen werde.
Nur sehr wenig hörte man allerdings von nüchternen Kommentatoren – wie etwa meinem Freund Luis, der trocken feststellte: „Die Leute lesen zu viele von diesen schwedischen Krimis. Wenn ich wollte, könnte ich wahrscheinlich sogar in ‚Pu der Bär‘ ein Muster für die Anschläge finden.“
Doch zurück ins Café Gum, zurück zu meiner verständnislosen Miene, zurück zu Raimund, der triumphierend dreinblickte und dann, da bei mir partout kein Groschen fallen wollte, „Björn Ringebier“ sagte. Auch dadurch sah ich aber nicht klarer. „Björn Ringebier?“, fragte ich, und nun war es Raimund, der stutzte. „Hab ich dir nie von Björn Ringebier, dem Schrecken meiner Kindheit, erzählt?“ Ich schüttelte den Kopf. Raimund seufzte. „Er hat mir Klebstoff auf den Go-Cart-Sitz geschmiert, meinen Cowboyfiguren mit einer Zange die Köpfe abgeknipst, meine Schneemänner umgeworfen und mir vor allem Sylvia, meine Sandkastenliebe, ausgespannt. Er hat keine Schurkerei ausgelassen. Zum Glück sind er und seine Eltern irgendwann nach Toronto ausgewandert.“
„So, nach Toronto“, sagte ich: „Und wie bitte schön soll er sich dann hier als Radlerschreck betätigen?“ – „Na ja, ich schätze, er ist zurückgekehrt.“ – „Du schätzt?! Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass es sich um irgendeinen anderen Björn R. handelt?!“ Doch Raimund schüttelte den Kopf, und weil man am nächsten Tag in der Zeitung lesen konnte, dass bei dem Verdächtigen ein zerfleddertes Exemplar von „Pu der Bär“ mit 44 Tatortskizzen und der Widmung „Für Sylvia – in ewiger Liebe TGD“ gefunden wurde, hatte er selbstverständlich allen Grund, wieder sehr triumphierend zu kucken.