taz talk zum Mauerfall: Zwei Männer, eine große Frage
Der Politiker Bodo Ramelow und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk diskutieren in der taz-Kantine, was Ostdeutschland besonders macht.
Was bleibt nach 35 Jahren noch von der Mauer? Das fragte taz-Moderatorin Anne Fromm am Montagabend in der ausgebuchten taz-Kantine.
Auf der Bühne des taz-talks waren zwei Männer zu Gast, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Der in Ostberlin aufgewachsene DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ist Antikommunist aus Erfahrung und Überzeugung. Die Linkspartei kritisiert er gern und häufig. Sein Gesprächspartner Bodo Ramelow kam 1990 aus Westdeutschland nach Thüringen, als Gewerkschaftssekretär. Später wurde er der erste Linken-Ministerpräsident dort und regierte zehn Jahre lang das Bundesland. Aktuell sitzt Ramelow für die Linkspartei im Bundestag.
Im August haben Ramelow und Kowalczuk zusammen ein Buch geschrieben, seitdem sind sie auf Tour. „Die neue Mauer“ heißt der Gesprächsband, Untertitel: „Ein Gespräch über den Osten“ (erschienen bei C.H. Beck).
Und auch wenn das Buch kein reines Ostdeutschland-Erklärbuch ist, geht es an diesem Abend in der taz-Kantine doch viel um den Osten und das Erbe der DDR. Kowlaczuk und Ramelow sind sich einig, dass Ostdeutschland mit dem Erstarken der Rechtsextremen und Autoritären keineswegs die Ausnahme ist. „Der Osten ist nicht das Besondere, sondern das besonders Frühe“, sagt Bodo Ramelow, und Kowalczuk prognostiziert, dass ostdeutsche Entwicklungen zeitversetzt auch im Westen eintreten werden.
„Die AfD ist kein ausschließlich ostdeutsches Phänomen“, sagt Kowalczuk und verweist auf westdeutsche Wahlkreise, in denen die Partei auf 30 Prozent komme.
Ostdeutschland sei das besonders „Frühe“
Was in Ostdeutschland durchaus besonders sei, sagt Bodo Ramelow, sei das Gefühl, besonders zu sein. „Dabei ist die Transformationserfahrung dort keineswegs einmalig: Der gesamte ehemalige Ostblock hat sie gemacht – und Ostdeutschland steht von all diesen Ländern heute am besten da.“
Wenn Ramelow über Thüringen spricht, dann klingt immernoch der stolze Ministerpräsident durch. Er schwärmt von der starken Wirtschaftsleistung in Thüringen, von hochpolierten Dörfern und ehrgeizigen Gemeindeprojekten.
Nur übersetzen sich diese Errungenschaften nicht in die ostdeutsche Gefühlslage, beobachtet Kowalczuk. Er nehme dort einen „tiefsitzenden Hass auf den Liberalismus und die westliche Lebensweise“ wahr. Das sei ein Ergebnis von 150 Jahren autoritärer Regierungsformen, denn mit einer kurzen Ausnahme während der Weimarer Republik habe es im Osten bis zur Wende keine Demokratie gegeben. Mit Autoritarismus, Hass, Rassismus und Antisemitismus sei in Ostdeutschland nie gebrochen worden.
Wie lässt sich dieses Abdriften ins Antidemokratische nun bremsen? Ramelow plädiert für eine stärkere Zivilgesellschaft, für ein „sich Einmischen auch bei schwierigen Fragen“ und für mehr Partizipation. „Parteien haben immer weniger Rückbindung an die Bevölkerung“, stellt er fest. Das verhindere eine demokratische Kultur und stärke neues – und altes! – Obrigkeitsdenken. Manch eine aktuelle Debatte in der Politik könne doch wirklich niemand mehr ernst nehmen, beispielsweise beim Wehrdienst. „Lasst uns doch drüber diskutieren“, sagt Ramelow. Sein Vorschlag: Ein Bürger*innenrat.
Der Dissenz am Ende
Am Ende der Veranstaltung kommt es zum Dissenz zwischen den beiden Männern. Aus dem Publikum kommt die Frage, wie Ramelow und Kowalczuk die jünste Aussage der Linken-Chefin Heidi Reichinnek bewerten. In einem Interview mit dem Stern hatte sie gesagt, die DDR sei kein Sozialismus gewesen.
Kowalczuk überlegt etwas, dann sagt er: „Wenn das kein richtiger Kommunismus war, dann will ich nicht wissen, was der richtige Kommunismus ist. Im falschen gab es 100 Millionen Tote, wie viel schafft ihr mit dem richtigen?“
Bodo Ramelow widerspricht nicht grundsätzlich, aber hakt ein, dass er großer Verfechter der Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ sei. „Ich finde es völlig deplatziert, dass wir zugelassen haben, dass Wohnungen zur Handelsware geworden sind“, sagt er, und wenn das dann Sozialismus heiße, dann stehe er dazu.
„Der Verkauf der Wohnungen passierte an mehreren Stellen mit Hilfe der PDS/Linkspartei“, entgegnete Kowalczuk darauf. „Ja, das war ein Fehler“, gibt Ramelow zu – aber einer in Folge des „neoliberalen Umbaus des Staates“.
Die Diskussion über den Sozialismus-Begriff bleibt der einzig große Dissenz zwischen den beiden auf der Bühne. Einig sind sie sich vor allem in einem: Das Land dürfe nicht den „Schreihälsen“ überlassen werden, den Obrigkeitshörigen, den Faktenverdrehern, den Faschisten und den Putin-Propagandisten.
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