taz-adventskalender: Berliner Glanz
Irmgard Keun: „Das kunstseidene Mädchen“, Ullstein Verlag, Berlin 2017, 256 Seiten, 12 Euro.
Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!
Was würde Doris wohl heute machen? Die 18-jährige Protagonistin aus Irmgard Keuns Romanklassiker „Das kunstseidene Mädchen“ bricht aus ihrem Büroalltag in Köln aus und macht sich auf den Weg nach Berlin. Sie möchte in der Hauptstadt der Weimarer Republik im Jahr 1931 ein Glanz sein, ganz oben ankommen oder anders ausgedrückt: berühmt werden.
Keuns Roman ist eine eindringliche Charakterstudie über eine naive, junge Frau aus ärmlichen Verhältnissen und ich fühlte mich Doris durch ihren Wortwitz schnell verbunden.
Keun formuliert aus ihrer Perspektive und die Protagonistin schreibt, was ihr in den Sinn kommt. Als Doris für ihre gewünschte Karriere mit neuem Pelzmantel und Hut in der Friedrichstraße ankommt, überwältigen sie die Massen. Ihre Gedanken sind wirr und sie erzählt ohne Filter, was um sie herum passiert.
Heute würde Doris eine enge Straße voller kommerzialisierter Läden vorfinden, die weder kompletter Ramsch noch charmante Boutiquen sind. Massen tummeln sich hier selten – die findet man wohl nur noch im Bahnhof Friedrichstraße.
Berlins Reiz liegt schon lange nicht mehr in den alten Hotspots. Die Kabaretts, in denen sich Doris ohne richtige Bleibe rumschlägt, haben heute geschlossen. Orte wie der Friedrichstadtpalast versuchen verzweifelt auf dem kosmopolitischen Ruf aus Doris’ Zeiten aufzubauen. Das Konzept von Berühmtheit oder Celebrity hat inzwischen befremdliche Formen angenommen. Bis vor einigen Dekaden schlossen sich Ruhm, Kultur und gesellschaftlicher Einfluss noch nicht aus. Das zeigen Figuren wie die Geschlechterrollen brechende Marlene Dietrich, die von Doris zitiert wird.
Der moderne Glanz der Hauptstadt kommt von Orten, die sich ihre künstlerischen Freiheiten nehmen. Das hat wenig mit Berlins altem Hollywood-Charme zu tun. Deshalb würde Doris wahrscheinlich in eine andere Stadt ziehen. Doch egal wohin es sie heute triebe, ihr Karrierevorhaben müsste genauso kläglich wie damals scheitern. Nicht einmal Entwicklungen wie soziale Netzwerke könnten ihre Naivität und Selbstbezogenheit in einen Glanz verwandeln. Denn ein Glanz ist man oder ist man nicht. Und wie Doris es am Ende selbst einsieht – vielleicht ist der Glanz an sich auch gar nicht so wichtig. Lorina Speder
Berlin-Faktor: So atemlos fühlte sich die Hauptstadt in der Weimarer Republik zwischen Glitzer und Armut an
Taugt als Weihnachtsgeschenk für: LiebhaberInnen der Neuen Sachlichkeit, Fans von Büchern mit außergewöhnlichen Protagonistinnen
Kunden, die das kauften, kauften auch: den Film „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich, „Die Dreigroschenoper“, Erich Kästners „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“
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