taz-Serie Schillerkiez: Eltern werben für die Schulen im Kiez
In Neukölln hat sich eine Elterninitiative gegründet. Ihr Ziel: eine Schillerkiez-Schule für alle. Die neue Bewegung ist ein Gradmesser für den sozialen Wandel.
Florians Sohn wird im Januar zwei, bis zum Schulalter ist es noch eine Weile hin. Trotzdem sitzt Florian an einem Montagabend im November im Gemeinderaum des Interkulturellen Zentrums Genezareth: Hier trifft sich die Initiative "Kiezschule für alle". Während seine Frau daheim das Kind ins Bett bringt, kümmert sich Florian um die Zukunft des Kleinen. "Vielleicht noch etwas früh" gibt er zu. "Aber man kann sich ja schon mal umhören". Mal umhören wollen sich auch zwei andere junge Väter von Krabbelkindern, die zum Treffen erschienen sind. Die anderen zehn Eltern, in der Mehrzahl Mütter, treibt ein akuteres Problem um: Sie haben Kinder, die demnächst eingeschult werden sollen, und trauen den Schulen in der Nachbarschaft nicht so recht. Andererseits: "Ich möchte nicht jeden Tag quer durch die Stadt gurken", sagt eine Frau. "Woanders sind die Schulen doch auch nicht besser, oder?"
In diesem Satz steckt die ganze Unsicherheit gebildeter Mittelschichtseltern, die in den letzten Jahren den Schillerkiez als innerstädtische Familienwohnlage für sich entdeckt haben. Und nun nicht mehr wegwollen - auch wenn die Schulen in der Nachbarschaft als inakzeptabel für bildungsbewusste Eltern gelten.
Dass es die 2010 gegründete Initiative überhaupt gibt, zeigt, wie sehr sich der Kiez seit der Öffnung des Tempelhofer Felds im Mai 2010 gewandelt hat. Hierher ziehen nicht mehr die, die sich woanders keine Wohnung leisten können, sondern Angestellte und Akademiker, die den riesigen Park, die zentrale Lage und das bodenständige Flair schätzen.
Zwischen Tempelhofer Feld und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Lange galt das Viertel als Arme-Leute-Gegend. Menschen aus vielen Ländern leben hier, die Arbeitslosenquote beträgt über 40 Prozent, der Kiez weist die höchste Bevölkerungsdichte von Neukölln auf.
Mit der Stilllegung des benachbarten Flughafens 2008 ist aus dem Viertel ein Quartier mit Potenzial für Investoren geworden. Droht dem Kiez eine Welle von Mietsteigerungen? Wird das einstige Arbeiterviertel gentrifiziert?
Sicher ist: Der Schillerkiez wandelt sich. Die taz wird diese Veränderungen beobachten. Seit Mai 2010 läuft das Projekt. Bereits erschienene Texte finden Sie im Netz unter www.taz.de/schillerkiez
"Vor sechs Jahren waren die beherrschenden Themen in der Elternberatung noch Bleiberecht und Deutschkurse, jetzt geht es darum, die Infrastruktur für Anspruchsvollere zu verbessern", sagt Evi Lingott, die im Evangelischen Kirchenkreis Neukölln die Elternarbeit leitet. Lingott ist seit sechs Jahren im Schillerkiez und beobachtet, wie sich die Elternschaft langsam verändert. "Hier wiederholt sich gerade die Entwicklung, die vor ein paar Jahren in Kreuzberg stattfand", glaubt sie.
Dort haben sich in den vergangenen Jahren mehrere solcher Elterninitiativen gegründet. Auch im Wedding gibt es seit letztem Jahr eine. Das Prinzip ist einfach: Meist überdurchschnittlich gebildete deutsche Muttersprachler tun sich zusammen, um ihre Kinder gemeinsam auf die Schulen der Umgebung zu verteilen, damit sie in der Klasse und auf dem Pausenhof nicht in der absoluten Minderheit sind. Für Schulen, die unter dem Stigma der Migranten- oder Problemschule leiden, können solche Initiativen eine Chance sein, an Profil zu gewinnen. Die Lenau-Schule in Kreuzberg etwa erlaubt seit 2010 die Anmeldung von Kindern in Gruppen, um Eltern im Kiez zu halten.
Auch die Grundschulen im Schillerkiez sind bemüht, den Eltern entgegenzukommen. An der Karl-Weise-Grundschule und der Karlsgarten-Grundschule dürfen Kinder, die sich aus dem Kinderladen kennen, gemeinsam eine Klasse besuchen. Eltern, die sich über den Schulalltag informieren wollen, dürfen bei laufendem Betrieb hospitieren. Das ergab ein Fragebogen, den die Elterninitiative an den beiden Grundschulen im Schillerkiez-Einzugsgebiet verteilt hat.
"Die Schulen reagierten prompt auf den Fragebogen und insgesamt sehr aufgeschlossen auf uns", berichtet die Initiativen-Mitgründerin Susann Worschech der Runde. Mutter Anja Röding kann das bestätigen. Sie hat eine Woche an der Karlsgarten-Schule hospitiert. Ob sie ihren Sohn Lars 2012 dort einschulen wird, weiß sie noch nicht. "Die geben sich große Mühe. Aber es ist eben schon nicht ohne da", sagt sie nachdenklich. Nicht ohne heißt: Gut 80 Prozent der Kinder sind nichtdeutsche Muttersprachler. Beide Schulen erreichen zu Schuljahresbeginn nur knapp ihre Sollzahlen von rund 90 Erstklässlern.
Die evangelische Schule Neukölln, die nur Platz hat für 52 Schulanfänger, hat dieses Problem nicht. Die meisten Eltern, die am Montagabend in der Runde sitzen, haben versucht, ihr Kind dort anzumelden, scheiterten aber an den ellenlangen Wartelisten.
"Es muss doch auch so gehen", ist das gemeinsame Credo, das die Elternrunde zusammenhält. "Ich will hier keine Elitenbildung betreiben, aber ich will auch nicht, dass mein Kind leidet", sagt Corinna, deren Sohn seit drei Jahren die Karl-Weise-Grundschule besucht. Ein paar mehr deutsche Muttersprachler wären schon nett, findet sie. Aber die machten sich rar. Schon vor Jahren versuchte die engagierte Mutter, gleichgesinnte Eltern aus den Kinderläden der Umgebung zur Zusammenarbeit zu bewegen - mit wenig Erfolg. Wer nach dem Ende der Kitazeit nicht wegzog, meldete die Kinder in anderen Bezirken an oder drängte in die wenigen Schulen, die in Neukölln als akzeptabel gelten. Etwa die Fritz-Karsen-Schule in Britz oder die Peter-Petersen-Schule am Körnerpark.
Eltern wie Corinna oder Arne, dessen Sohn ebenfalls die Karl-Weise-Schule besucht, ärgert das. "Ich musste mich rechtfertigen, warum ich meinem Kind das antue - dabei ist bis jetzt alles super", sagt Arne. Die Initiative will nun gezielt Eltern in Kinderläden und auf Spielplätzen ansprechen, sie zu Schulhospitationen und Diskussionen einladen, um Ängste zu zerstreuen. Zum Beispiel davor, dass die Kinder durch den täglichen Kontakt mit so vielen Nichtmuttersprachlern ihr gutes Deutsch verlieren. "Na ja", sagt Arne da zögerlich, "nach sechs Wochen Schule ist das Deutsch meines Sohnes kontinuierlich schlechter geworden." Das gebe sich, beruhigt Corinna. "Mein Sohn ist inzwischen fließend bilingual - und kann seinen Sprachgebrauch blitzschnell zwischen Schulhof und Deutsch umschalten."
Eine kleine Unsicherheit nagte aber auch an ihr. In heimlichen Tests im Bekanntenkreis überprüfte sie, ob gleichaltrige Kinder, die auf "ordentliche Schulen" gehen, mehr wissen, schneller oder besser sind als ihr Sohn. Das war nicht der Fall. Seitdem weiß Corinna, was die Eltern in der Neuköllner Runde bisher nur glauben wollen: Es geht - wenn man sich nicht verunsichern lässt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen