taz-Serie Schillerkiez: Mieterhöhungen: Willkommen in "Prenzlkölln"
Altbauwohnungen in dem Neuköllner Viertel sind inzwischen begehrt. Vermieter nutzen die Nachfrage aus: Sie erhöhen die Mieten kräftig - und werben mit platten Schlagworten.
Etwa 50 Menschen schieben sich durch den langen Flur der Altbauwohnung, die einer Baustelle gleicht: Auf dem staubigen Boden liegen Schutt- und Holzstapel, von der Decke hängen Kabel, von den Wänden Tapeten in Fetzen. "Das wird alles noch saniert", erklärt die Mitarbeiterin der Hausverwaltung. Wie zum Beweis dröhnt ein Stockwerk tiefer eine Bohrmaschine, auch dort wird renoviert. "Oh, guck mal, man sieht von hier oben sogar den Fernsehturm", sagt eine Frau auf dem Balkon glücklich. Die Silhouette des Berliner Wahrzeichens erhebt sich weit hinter der Kirche in der Schillerpromenade, in der die freie Wohnung liegt. Die zentrale Straße des Kiezes, nur ein paar Schritte vom ehemaligen Flughafen entfernt, ist die derzeit begehrteste Gegend im Kiez.
Die 70 Quadratmeter große Zweizimmerwohnung liegt im vierten Stock, hat einen Balkon, dafür aber nur ein winziges Bad ohne Badewanne. In vier Wochen soll sie bezugsfertig sein und kostet dann 615 Euro warm. Die Kaltmiete ohne Betriebskosten liegt bei 6,50 Euro pro Quadratmeter. Die Vormieter hatten noch 4,30 Euro gezahlt.
Das ist derzeitig Trend im Kiez: Ziehen Mieter aus, werden die oftmals baufälligen Altbauwohnungen saniert und die Mieten dann kräftig erhöht. "Diese Wohnung ist noch günstig", erklärt die Mitarbeiterin der Hausverwaltung, die weder ihren noch den Namen ihres Arbeitgebers in der Zeitung lesen möchte. "Meistens liegt die Miete nach der Sanierung um die 7,50 Euro."
Zwischen Tempelhofer Feld und Hermannstraße liegt der Schillerkiez. Bislang galt das Viertel am Rande des ehemaligen Flughafens als Armeleutegegend. Menschen aus vielen Nationen leben hier, die Arbeitslosenquote beträgt über 40 Prozent, der Kiez weist die höchste Bevölkerungsdichte von Neukölln auf Doch spätestens seit der Stilllegung des Flughafens im Herbst 2008 ist aus dem innerstädtischen Viertel ein Quartier mit reichlich Potenzial für Investoren geworden. Seit Anfang Mai ist die 386 Hektar große Freifläche ein Park; später sollen hier Gewerbebetriebe entstehen und mehrere neue Wohnquartiere für die obere Mittelschicht.
Droht dem Schillerkiez nun eine Welle von Mietsteigerungen, wie sie weite Teile von Prenzlauer Berg und Kreuzberg bereits erlebt haben? Sind die Studierenden und Künstler, die seit einiger Zeit ins Viertel strömen, Vorboten einer Entwicklung, die in Friedrichshain und Mitte schon an ihrem Ende angekommen ist? Wird das einstige Arbeiterviertel gentrifiziert - oder wird es bei ein paar Townhouses am Parkrand bleiben?
Sicher ist nur eins: Der Schillerkiez wird sich verändern. Wer davon wie stark profitiert, wird man sehen. Die taz wird diese Veränderungen in den nächsten Jahren beobachten. Seit Mai 2010 läuft das Projekt.
Und damit deutlich über dem Berliner Mietspiegel, der 2009 für eine einfache Wohngegend, als die der Schillerkiez gilt, für eine Wohnung mit Standardausstattung eine ortsübliche Vergleichsmiete von 4,60 Euro netto kalt ausweist. Eine ausgebaute Dachgeschosswohnung kann auch schon mal 8,50 Euro pro Quadratmeter kosten und wird beworben mit Slogans wie "Schillerkiez - die Adresse im hippen Neukölln". Sogar von "Prenzlkölln" ist schon die Rede.
Das Internetportal Immobilienscout hat für die taz die Daten der dort angebotenen Wohnungen zusammengestellt: Lag die Nettokaltmiete für die im Portal inserierten Wohnungen vor drei Jahren noch bei durchschnittlich 4,70 Euro pro Quadratmeter, ist sie auf nun 5,75 Euro angestiegen - ein Plus von 22 Prozent.
Das Handy der jungen Frau von der Hausverwaltung klingelt ständig. "Mir wird hier gerade jeder Quadratmeter aus den Händen gerissen", erklärt sie. Vor allem Studierende und Künstler finden in Friedrichshain und Kreuzberg nichts mehr Bezahlbares und strömen deshalb gen Neukölln. Zunächst war nur das Gebiet direkt an der Grenze zu Kreuzberg attraktiv, jetzt ist auch die Gegend südlich des Hermannplatzes begehrt. Es ist eine rasante Entwicklung: Vor zwei Jahren stand noch ein Zehntel aller Wohnungen im Kiez leer, so die Zahlen des Quartiersmanagements Schillerpromenade.
Langsam werden die Veränderungen im Kiez deutlich: In einige der zuvor unvermieteten Parterreläden sind Ateliers und eine Malschule eingezogen, in anderen sieht man junge Leute auf Leitern die Wände streichen. Verstärkt tauchen Baugerüste an Altbauten auf. Beim türkischstämmigen Bäcker an der Ecke sitzen junge Leute in der herbstlichen Vormittagssonne, in die Fremdsprachen des multikulturellen Kiezes mischen sich jetzt auch Englisch und Spanisch.
So wird wie in ganz Neukölln auch im Schillerkiez der angebotene Wohnraum knapp. Bei Immobilienscout wurden in diesem Jahr nur noch halb so viele Wohnungen angeboten wie im gleichen Zeitraum vor drei Jahren. Auch die Immobilienverkäufe sind rückläufig: Wechselten im Jahr der Schließung des Flughafens 2008 noch 250 Wohnungen den Eigentümer, waren es in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gerade mal 34. Doch große Immobilienspekulanten haben nicht zugeschlagen. Abgesehen von der Wohnungsbaugesellschaft "Stadt und Land", die im südwestlichen Kiez einen Komplex mit 400 Altbauwohnungen besitzt, gehören die Wohnungen und Häuser laut der Brandenburgischen Stadterneuerungsgesellschaft, Träger des Quartiersmanagements Schillerpromenade, fast ausschließlich Einzeleigentümern.
Eine von ihnen ist Beate Hauke. Ihre Eltern haben das Haus in der Okerstraße bereits 1968 gekauft. Lange hat Hauke selbst hier gelebt. Und auch seit sie mit ihrer Familie nach Heiligensee gezogen ist und im Haus nur noch ihre Zweitwohnung hat, kommt man an der Alteingesessenen nicht vorbei: Beate Hauke betreibt einen Neukölln-Blog, sitzt im Quartiersrat und hat den samstäglichen Wochenmarkt in der Schillerpromenade initiiert. "Ich will wissen, was hier passiert, und mitbestimmen, wie sich mein Kiez entwickelt", erklärt die 58-Jährige mit dem dunkelblonden Pagenkopf.
Auch den Verein "Pro Schillerkiez" hat sie 2006 gegründet - einen Zusammenschluss von ansässigen Bewohnern und Wohnungs- und Hauseigentümern, die die Wohn- und Lebensqualität im Kiez verbessern wollten. Sie haben Straßenreinigungsaktionen organisiert, Baumscheiben bepflanzt und eine Wohnbörse ins Leben gerufen. "Damals gab es hier jede Menge Leerstand, und wir Eigentümer wollten uns vernetzen, um Mieter zu finden und den Kiez aufzuwerten. Es wollte ja kaum einer her, alle Zeitungen haben die Gegend totgeschrieben", erklärt Hauke ihre Motivation.
Die Börse betreibt sie heute noch, zweimal monatlich im Parterrebüro ihres Hauses. Gerade sind drei iranische Flüchtlinge mit einem Übersetzer in ihrem Büro. Hauke sitzt mit ihnen an dem Tisch mit gelber Samttischdecke, und sie schreiben per Hand auf, was sie suchen: Eine Einzimmerwohnung für eine alleinstehende Frau und eine Zwei- bis Dreizimmerwohnung für ein junges Paar.
Hauke kann den Wohnungssuchenden allerdings nicht viel Hoffnung machen. Die Wohnbörse bietet kaum noch freie Wohnungen, und waren früher darin 30 Eigentümer vernetzt, hat Hauke heute kaum noch Kontakte, da viele Eigentümer gewechselt haben und die neuen wenig Interesse zeigen. "Wenn die eine Anzeige schalten, stehen mindestens 40 Leute vor der Tür. Da braucht es keine Wohnbörse mehr", sagt Hauke. Sie überlegt deshalb, das ehrenamtliche Projekt einzustellen.
Ähnlich mau laufen die Geschäfte bei Immoblienmakler Cemal Düz. Er betreibt sein Büro im südlichen Schillerkiez und arbeitet vor allem für jene, die schlecht Deutsch sprechen oder den Wohnungsmarkt nicht kennen. Düz bringt die Entwicklung krass auf den Punkt: "Hartz IV geht raus aus Neukölln." Er deutet auf eine Riege Ordner, in denen 800 Suchaufträge von Hartz-IV-Empfängern abgeheftet sind. "Ich finde für sie hier keine Wohnung mehr. Die müssen nun nach Marzahn oder in den Wedding", erklärt er. Die Miet- und Schuldnerberatungen des Schillerkiezes bestätigen den Trend: Hartz-IV-Empfänger hätten kaum noch eine Chance, Wohnungen zu finden.
Viele Bewohner des Kiezes sehen die Mietpreisentwicklungen mit Besorgnis, Schlagworte wie "Verdrängung" und "Gentrifizierung" sind schnell bei der Hand. Vor dem linken Stadtteilladen Lunte hängt ein Plakat, auf dem ausländische Künstler und Studenten aufgefordert werden, keine überzogenen Preise für Wohnraum zu zahlen und sich zu engagieren: "Be creative and active against gentrification".
Für Horst Evertz, Prozesssteuerer bei der Brandenburgischen Stadterneuerungsgesellschaft, ist die Gentrifizerungsdebatte indes eine "Scheindebatte". "Künstler und Studenten lösen noch keine Gentrifizierung aus. Großinvestoren haben bisher kein Interesse an der Gegend, weil Neukölln immer noch ein sozialer Brennpunkt ist und Familien spätestens wegziehen, wenn ihre Kinder schulpflichtig werden", erklärt Everts. Das sieht der Soziologe Sigmar Gude ähnlich: "Es gibt eine verstärkte Nachfrage in Neukölln und Mietsteigerungen. Aber es gibt zu wenig Gentrifier, also zu wenig Haushalte mit hohem Einkommen, um derzeit von einer wirklichen Gentrifizierung zu sprechen." Eher würden die weniger Armen mit den ganz Armen um Wohnraum streiten, erklärt Gude.
Auch für Hauseigentümerin Beate Hauke ist die Diskussion ein reines Angstgebilde. "Ich will hier keine Prenzlauer-Berg-Verhältnisse. Aber so bleiben konnte es auch nicht. Ich freue mich, dass die Gegend sauberer und sicherer wird", sagt sie. Sie werde auch angegriffen von Leuten, die nicht wollen, dass die Gegend aufgewertet wird. "Die Mieten steigen doch nicht wegen engagierter Leute im Kiez, die wie ich Hundekottüten aufhängen und Aufräumaktionen starten. Sondern weil die Flughafenschließung die Gegend attraktiver gemacht hat", sagt Hauke. Die Hauseigentümerin hat ihre 30 Wohnungen schon vor Jahren sanieren lassen und derzeit nicht vor, ihre Nettokaltmiete von 4,30 Euro pro Quadratmeter zu erhöhen.
Bei der Wohnungsbesichtigung ist auch ein junges schwules Paar. Nach einem Auslandsjahr in China suchen die beiden eine neue Bleibe in der Gegend. Sie sind geschockt angesichts des Neukölln-Booms und des Andrangs bei der Besichtigung. Vor einem Jahr haben sie ihre Wohnung am Herrmannplatz aufgegeben, inzwischen hätten sich die Mieten für Wohnungen in dieser Ecke oftmals verdoppelt. "Das hat sich so schnell verändert. Vor einigen Jahren wollten mich meine Freunde nachts nicht besuchen, weil ich in Neukölln wohne", sagt einer der beiden. "Wir wollen nicht hierher, weil es hipp ist, sondern weil wir vorher hier schon gewohnt haben und die Gegend mögen", so sein Freund.
Da ist sich ein älterer Wohnungsinteressent nicht so sicher. "Das ist ja architektonisch und mit dem Park alles ganz schön hier. Aber ich weiß nicht, mit den Leuten, ist ja schon ne krasse Gegend", sagt der Schriftsteller und blickt vom Balkon aus skeptisch auf die Schillerpromenade. "Was wohnen denn hier für Leute? Falle ich hier im Treppenhaus ständig über jemanden, der sich gerade ins Jenseits befördert?", fragt er die Frau von der Hausverwaltung. "Wir legen Wert auf eine gute Mieterstruktur, die meisten neuen Mieter sind Studenten", erklärt sie ruhig.
Am Ende füllen fast alle der 50 Interessenten die Bewerbungsbögen aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind