taz-Serie Orte der Migration (Teil 2): Baracke mit Geschichte
Am Waterlooufer steht ein unscheinbarer Flachbau, den ein türkischer Kulturverein nutzt. Einst vergab hier die DDR Passierscheine, später kamen Flüchtlinge
Als der kurdisch-alevitische Kulturverein "Dersim" vor über elf Jahren einen neuen Gemeinderaum suchte, gab es nur drei Kriterien: groß und bezahlbar sollte er sein - und im Kreuzberger Kiez liegen. Aynur Cicek, Sprecherin von Dersim, erinnert sich, dass sie damals von einer Baracke am Waterloo-Ufer hörten, die eigentlich abgerissen werden sollte. Weil das die Stadt aber zu teuer kam, wollte sie das Gebäude billig vermieten. So kamen die Dersimer ins Spiel. Sie renovierten den heruntergekommenen Flachbau, der seit der Jahrtausendwende Sitz ihres Vereins ist. Dass sie sich an diesem Ort nicht nur mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen würden, hätten sie bei ihrem Einzug nicht gedacht, sagt Cicek: "Wir wussten, wofür die Baracke früher genutzt wurde. Welchen historischen Wert sie hat, war uns nicht klar."
Doch immer wieder kamen Menschen zu Besuch, die ihre ganz eigenen Erinnerungen mit dem unscheinbaren Bau verbanden. Unter den Fragenden waren ältere Deutsche, aber auch Menschen aus dem früheren Jugoslawien. So fingen die Dersimer an, die Geschichte des Gebäudes zu erforschen und zu dokumentieren. "Wir wollten Auskunft geben können", sagt Cicek.
Anfang der neunziger Jahre war die Baracke am Waterloo-Ufer Anlaufstelle für die tausenden Kriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien. Fast 8.000 Menschen kamen allein in den ersten Herbstwochen 1992 dort an. Die Baracke war als Außenstelle der Ausländerbehörde der einzige Ort in Berlin, wo die Flüchtlinge Anträge auf Aufenthalt stellen konnten und einer Unterkunft zugewiesen wurden. Bald wurde der Andrang zu groß, die Warteschlange schwappte in den Vorgarten, und obwohl die Zahl der Mitarbeiter verdoppelt wurde, dauerte es oft Tage, bis die Flüchtlinge vorsprechen konnten. Viele übernachteten solange im Freien.
Bosiljka Schedlich, heute 63 und Geschäftsführerin des Südost Europa Kulturvereins, half damals als Übersetzerin. Sie erinnert sich daran, dass vor der Baracke "junge Menschen, kräftig und gewalttätig, Wartenummern gegen Geld verkauften" - bevor die Ausländerbehörde selbst Nummern einführte. Das schürte Konflikte. Mit dem Einbruch des Winters verteilten Helfer Kleidung und Essen. Ein im Landwehrkanal liegendes Schiff wurde zur Warte- und Aufwärmhalle für Frauen mit Kindern umfunktioniert, doch selbst das reichte nicht. Schließlich wurde eine größere Aufnahmestelle in Hohenschönhausen eröffnet.
Von der DDR errichtet
Bevor die Baracke Zugangsstelle für Flüchtlinge war, hatte sie einer anderen Art von Zugangskontrolle gedient: Die DDR erichtete sie als Büro für Besuchs-und Reiseangelegenheiten. Nach dem Passierscheinabkommen von 1972 war es WestberlinerInnen möglich, gegen Vorlage des "behelfsmäßigen Berliner Personalausweises" einen Berechtigungsschein zur Ein- und Ausreise in die DDR zu erhalten. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterhielt zur Erteilung dieser Visa fünf Büros in Westberlin. Während BürgerInnen der Bundesrepublik ein Visum am Grenzübergang erhielten, mussten Westberliner sich die Berechtigung schon vorher erteilen lassen - als Tagesvisum oder Mehrfachberechtigung für maximal neun Besuche.
Martin Düspohl (54), heute Leiter des Kreuzberg Museums und damals Student in Westberlin, erinnert sich noch gut an die eisige Stimmung in der Baracke. Am Empfang wurden die Formulare von Angestellten des Westberliner Senats ausgehändigt, im Hinterzimmer wurden sie von DDR-Beamten geprüft. Damit sich kein kollegiales Verhältnis zwischen Ost- und Westberliner Beschäftigten entwickelte, ließ das MfS seine Mitarbeiter täglich mit einem eigenem Fahrzeug zur Arbeit und zurück befördern. Mit dem Fall der Mauer 1989 wurde die Visa-Stelle geschlossen.
Doch nicht erst seit der Errichtung der Baracke in den 70er Jahren hat der Ort eine Funktion der Zugangskontrolle. Bis 1860 stand entlang der heutigen U-Bahn-Linie 1 die Berliner Stadtmauer, 1734 erbaut. Das Hallesche Tor war eines der Stadttore, durch die man nach Berlin gelangte. "Hier herrschte eine ähnlich scharfe Grenzkontrolle, wie man sie später aus Zeiten der Berliner Mauer kennt", sagt Düspohl. Hugenotten, Böhmen und Salzburger Protestanten zogen im 17. und 18. Jahrhundert durch das Hallesche Tor.
Böhmen vor dem Stadttor
Auch damals verlief solche Einwanderung nicht immer reibungslos. Während die Hugenotten aus Frankreich willkommen waren, mussten die von den Habsburgern verfolgten Böhmen erst wochenlang vor dem Stadttor kampieren. Die westeuropäischen Protestanten waren den Preußen lieber als die tschechischen Böhmen, derer sich der König aber irgendwann erbarmte, weil ihre Arbeitstüchtigkeit ihn beeindruckte. Er gab ihnen Grundstücke entlang der Wilhelmstraße, weshalb die Berliner diese Gegend einst "Böhmische Walachei" nannten. Einwanderungspolitik wurde also schon immer von der Nützlichkeit der Einwanderer anhängig gemacht.
Auch Diskriminierung gab es bereits: Einer Erzählung nach wurde der Philosoph Moses Mendelssohn, der zu Fuß aus Dessau nach Berlin kam, nicht durch das Hallesche Tor gelassen, weil er Jude war.
Die heutigen Nutzer der Baracke, EinwanderInnen aus dem kurdisch-alevitischen Südosten der Türkei, sehen sich in der Tradition dieser Vergangenheit. Ihr Herkunftsort Dersim ist eine Region in Ostanatolien, die Städte wie Tunceli, Bingöl und Erzincan einschließt. Als Dersimer bezeichnen sich überwiegend Menschen, die der alevitischen Minderheit angehören und neben Türkisch auch Zazaki sprechen.
Lange wurden die alevitischen Zaz aufgrund ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit vom türkischen Staat verfolgt und konnten ihre Sprache und Kultur nicht öffentlich praktizieren. Als während des Putsches in der Türkei 1980 die Verfolgung ihren Höhepunkt hatte, flohen viele Dersimer ins Ausland.
Seit 19 Jahren setzen sich die Mitglieder des Kulturvereins für ihre Sprache und Kultur ein. Über den Erhalt der Baracke durch diese Minderheit sagt Cicek: "Wir haben bewusst in die Baracke investiert, um sie für uns aufzubauen, und dabei unbewusst ein historisches Gebäude geschützt. Gut, dass wir das getan haben, und gut, dass es Migranten waren, die das taten."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation