taz-Serie Damals bei uns daheim: Stell dich nicht so an
Angst vor prophylaktischen Mandeloperationen? Dagegen helfen am besten Backpfeifen. Oder gar nicht erst anstellen. Und frische Luft.
A m Frühstückstisch blickte Stiefmutter nur ganz kurz von ihrer Zeitung hoch: „Übrigens: Du kommst heute ins Krankenhaus. Stiefvati wird dich nachher hinbringen. Aber bitte ausnahmsweise mal ganz ohne diese Anstellerei!“
Ich fing an, zu heulen: „Aber ich bin doch gar nicht krank!“
„Siehst du?“ Stiefmutter jaulte schrill auf wie ein ins Fangeisen getappter Koyote. „Du stellst dich wieder an!“ Ich also „stellte mich mal wieder an“, wie mein Wunsch, bitte einfach nur nicht zu sterben, interpretiert wurde. „Anstellerei“ sagte man damals bei uns daheim zu verzärtelten Attitüden jeglicher Art: Zum Beispiel, wenn meine Stiefgeschwister und ich bei einer Mischwetterlage aus Hagel, Fliegeralarm und Erdbeben nicht „an die früsche Luft“ wollten. Dann hieß es: „Wenn ihr euch weiter so anstellt, habt ihr gleich einen echten Grund!“ Wir waren dankbar für diesen Hinweis, denn bei aller Strenge wollten die Stiefeltern stets nur unser Bestes.
Auch konnte Stiefmutter im Anschluss an die obligatorische Tracht Prügel schnell vergeben. Das war schon toll an ihr. Obwohl meine dummen Widerworte sie zutiefst gekränkt haben mussten, erläuterte sie mir ruhig und geduldig schreiend die Notwendigkeit der bevorstehenden Operation: Die Mandeln mussten entfernt werden. Unbedingt. Wie bei allen anderen Stiefkindern. Prophylaktisch riss man die nützlichen Filterorgane heraus wie Unkraut. Mandeln waren schlecht, sie waren Feinde im eigenen Körper, schädlich und überflüssig, das Böse schlechthin, das ausgemerzt werden musste. Fast gewann man den Eindruck, der blinde Hass, der sich einige Jahre zuvor einen äußeren Volksschädling imaginiert hatte, richtete sich nun nach innen gegen den Leib der eigenen Stiefkinder.
Mit stumpfem Messer
Zu viele Körperteile galten ohnehin als Luxus, eine Haltung, die sich durch den allgegenwärtigen Anblick kriegsgeschädigter Veteranen noch verstärkte. So war ich zuvor bereits an Schwänzlein und Ohren kupiert worden, um „an der früschen Luft“ nicht ständig überall hängenzubleiben.
Wortlos fuhr mich Stiefvater zum Krankenhaus, ebenso wortlos lieferte er mich dort ab. Nur eine Abschiedsbackpfeife ermahnte mich, mich ja nicht „anzustellen“. Erst als die Rücklichter des VW Volkssturm weit genug entfernt waren, ließ ich meinen Tränen der Verzweiflung freien Lauf.
NSU war damals eine angesehene Automarke in einem grauen Land, in dem der Weiße Riese und schwarze Pädagogik herrschten. Die Serie über eine Kindheit in der Westzone zwischen Umweltverschmutzung, Pellkartoffeln und Kaltem Krieg.
Das Krankenhaus war eine billige Tierklinik, doch sie hatte sich schon bei den anderen Eingriffen zur Zufriedenheit bewährt. Drinnen wurde ich mit tausend weiteren Stiefkindern in einer Reihe an die Wand gestellt, wo uns im Akkord mit einem stumpfen Messer die Mandeln herausgeschnitten wurden.
Der ehemals weiße Kittel des Stiefarztes war über und über mit Blut besudelt. Ich erinnere mich noch an sein heiseres Lachen, als seine blutige Hand nach meiner Gurgel griff. Danach erinnerte ich mich an gar nichts mehr, bis ich mit schrecklichen Schmerzen in einem Holzverschlag erwachte. Von draußen hörte man schon das furchtsame Quieken der nächsten tausend Stiefkinder.
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