taz-Krimi, Teil 5: Die Asylanten kommen
■ Eine Fortsetzungsgeschichte in fünf Folgen von Christine Grän / Letzter Teil: Die Invasion
Es sind auch Schwarze unter den Asylanten, aber vor allem sind sie blau, betrunken und außer Rand und Band. Sie stürmen in die Gaststube und grölen unverständliches Zeug. „Bier!“ Dies Wort ist verständlich. Sie schreien nach Bier, einer umarmt die Kellnerin, die vor Schreck ihr Tablett fallen läßt. Andere setzen sich, man stelle sich vor, auf die freien Plätze am Stammtisch.
Eine Invasion! Es sind nicht mehr viele Dorfbewohner im „Goldenen Hirschen“, vielleicht zwölf, unter ihnen der Apotheker. Und mindestens 30 Ausländer. Sturzbetrunken. Sie schreien nach Bier, und der Wirt sagt: „Schmeißt sie raus“, doch seine Gäste, die deutschen Gäste, sind nach dem vielen Reden und Trinken einfach nicht mehr in der Lage, angemessen auf diese ungeheuerliche Situation zu reagieren. Außerdem sind sie eindeutig in der Minderzahl und obendrein Familienväter mit Verantwortung.
Der Pfarrer ist bereits gegangen. Vielleicht hätte er gewußt, was in dieser Situation zu tun sei. Seine Schafe wissen es nicht, stumm vor Entsetzen sehen sie zu, wie sich die Ausländer am Bierhahn selbst bedienen, wie einige anfangen zu tanzen und andere in unverständlichen Worten das Gespräch suchen.
Wer es schafft, sucht das Weite, einfach so, ohne zu bezahlen, während der Wirt hinter der Theke Deckung sucht. Den Apotheker haben sie umzingelt. „We are all brothers“, sagt ein Somali zu ihm und legt ihm den Arm auf die Schulter, eine Geste, die seinem weißen Bruder Schauer über den Rücken jagt. Er ist umzingelt und ein erfahrener Kämpfer, deshalb lächelt er und nickt, während der Wirt versucht, den Dorfpolizisten zu erreichen, bis einer seiner ungebetenen Gäste unter großem Gelächter die Telefonschnur durchschneidet.
„We are brothers“, grölen sie auf der Straße, glücklich und betrunken und auch hungrig. Deshalb besetzt ein Teil von ihnen Marios Pizzastube, während die Unternehmungslustigsten die Disco stürmen, wo es alsbald zu einer Schlägerei kommt, die alle Dorfschlägereien der letzten zehn Jahre in den Schatten stellt. Wäre Hinrichs Sohn dabeigewesen, vielleicht hätte er seine Kameraden mit Durchhalteparolen anstacheln können; so tritt die Dorfjugend alsbald feige und geschlossen den Rückzug an. Manche vergessen sogar, die Mädels mitzunehmen, die hinter Bänken Deckung gesucht haben. Was bleibt ihnen übrig, den Mädchen, als mit den Besatzern zu kollaborieren? Als die Polizei in der Disco eintrifft, findet sie eine multikulturelle Gesellschaft vor, die zu ohrenbetäubender Musik tanzt.
Die „Besetzung des Dorfes“, wie das Ereignis später genannt wird, dauerte exakt 92 Minuten. Eine Reihe von Mißveständnissen verzögerte das Eintreffen der Ordnungshüter. So hatte die Frau des Apothekers am Telefon von einer „Invasion“ gestammelt und war von dem Polizisten des Nachbarortes nicht ernst genommen worden. Erst als ihr Mann den „Aufständischen“ entkommen war und mit akademischer Präzision das Ungeheuerliche schilderte, war ein Polizeiauto des Nachbarortes ausgerückt. Die beiden Polizisten wiederum zogen es vor, Verstärkung anzufordern, bevor sie in das Geschehen eingriffen.
„Die Bürger haben sich in ihren Häusern verschanzt“, meldeten sie in die Zentrale, als sie geschlossen vorrückten, um im „Goldenen Hirschen“, in Marios Pizzastube und in der Disco das Geschehen unter Kontrolle zu bringen. Hier und da kam es zu Übergriffen, die als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ in die Polizeiakten eingingen. Der Einsatzleiter sprach von einem hohen Ausmaß an „Intoxikation“ und „Verwüstungen geringeren Ausmaßes“. Allerdings mußte er sich, nachdem die Übeltäter in Polizeiwagen verfrachtet waren, vor der aufgebrachten Menge der Dorfbewohner in Sicherheit bringen, die die Ordnungshüter als „Penner“ beschimpften. „Das Dorf war in der Gewalt von Ausländern“, schrie der Apotheker und geriet dermaßen in Rage, daß man ihn ebenfalls in den Polizeiwagen verfrachtete, wo er unter Gejohle von seinen Brüdern empfangen wurde.
Die Gattin erlitt einen Schwächeanfall, während ihre Tochter, die in der Disco geblieben war, von einer „supergeilen Nacht“ sprach. Keines der Mädels war vergewaltigt worden, wie sie später aussagten. Der Sachschaden war geringfügig, nur der Schaden, den das Dorf genommen hatte, er ließ sich juristisch nicht ahnden und führte zu schmerzlichen Diskussionen über die Ohnmacht des Rechtsstaates, die Schutzlosigkeit der Bürger, die lasche Polizei und das Asylantenproblem im allgemeinen und besonderen.
Der Apotheker sprach von „verletzter deutscher Ehre“, lange nachdem man die Asylanten an einen anderen Ort gebracht hatte. Im Zuge ihrer Ermittlungen hatte die Polizei ein leeres Schnapsfaß gefunden, dessen Herkunft nicht geklärt werden konnte. Bauer Hinrich, dazu befragt, erklärte, daß es wohl in der alten Schnapsfabrik vergessen und von den Bewohnern gefunden worden sei. Dieses Schnapsfaß, so schloß die Polizei, war der „Ausgangspunkt der Exzesse jener Nacht“. Sie wurden von der überregionalen Presse aufgegriffen und führten zu einer Invasion von Journalisten, die die Dorfbewohner intensiv nach der „Terrornacht“ befragten. Leider gab es auch einige unverschämte Kommentare. Besonders niederträchtig war die Behauptung Hinrichs vor laufenden Kameras, daß die Dorfbewohner sich allesamt verkrochen hätten, als die Asylanten kamen. „Die wollten sich ja bloß einen schönen Abend machen“, sagte Hinrich grinsend, und der Pfarrer sprach gar von einem „multikulturellen Ereignis im Dorf“.
Der Bürgermeister wurde nicht wiedergewählt, obwohl er nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, daß mit „der Verbringung der Asylanten“ doch nun alles wieder sei wie zuvor. Es stimmt so nicht, das spürt jeder im Dorf. Wut und Empörung sind einem Gefühl gewichen, das niemand genau definieren möchte. Am liebsten möchte man gar nicht mehr darüber sprechen. Nur der Hinrich, wenn er einen zuviel getrunken hat, reizt die Stammtischrunde mit dem Aufschrei „Die Asylanten kommen!“. Wenn sie zusammenzucken, beginnt er schallend zu lachen. Eines Tages, so viel steht fest, wird man dem Hinrich seine Schnapsfabrik anzünden. Damit er still ist.
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